Das Leben findet während der Fahrt statt. Dr. Wolfgang Lipps. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Wolfgang Lipps
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227093
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seine Jagdgäste ausnahmslos bis zu ihrem jeweiligen Hochsitz zu führen, er leise vorneweg, der Jagdgast hinterher. Niemals, echt niemals hatte er von dieser Angewohnheit eine Ausnahme gemacht, nicht mal in der DDR bei der Führung von Grosskopfeten.

      Kurze Zeit nach dem Gerichtstermin hat er zwei liebe alte Jagdgäste, Vater und Sohn. Die sind seit zwei Tagen da und wollen nachts zurückfahren, aber vorher noch mal bei abnehmendem Mond auf Sauen ansitzen. Bis dahin hatten sie erst einen Überläufer erlegt.

      Und ausgerechnet an diesem Abend passiert eine völlig undenkbare Abweichung vom Normverhalten – da seine Jagdgäste ihre Kanzeln gut kennen, entschliesst sich O., nachhause zu fahren und die Sau aus der Wildkammer zu holen, während die beiden Gäste ausnahmsweise mal allein zu ihren Sitzen gehen. Am Waldrand trennen sie sich, der Sohn pirscht am Feld entlang weiter und Vater biegt in einen Rückeweg ein, der im dichten Tann direkt auf eine von O´s Lieblingskanzeln zuführt. Im Wald ist es einigermassen dunkel, aber, wie der Jäger sagt, gutes Büchsenlicht. Vater geht ruhig auf die hohe Kanzel zu, die sich bereits gegen den helleren Nachthimmel abzuzeichnen beginnt.

      Der Sohn hat gerade die am Wald-Feld-Rand frei stehende Leiter erreicht, als im Wald, aus Vaters Richtung, ein Schuss fällt, gefolgt von einem durchdringenden Schmerzensschrei. Er dreht um und rennt am Feldrand zurück in den Wald, rufend, und stolpert über seinen am Boden liegenden stöhnenden und röchelnden Vater. Er reisst ihn hoch und schleppt ihn zum Auto, wirft ihn auf den Rücksitz und rast nach Bad Freienwalde zum Krankenhaus. Dort wird der getroffene Vater vor dem Haus aus dem Wagen gehoben und sofort ärztlich versorgt. 15 Minuten später ist der Mann tot – eine Kugel Kaliber 30-06 hat die Lunge zerrissen, eine Herzklappe angerissen, mehrere Arterien verletzt und sich im Brustkorb zerlegt.

      In diesem Moment kommt O von zuhause zurück mit dem Schwein im Kofferraum, sieht den Menschenauflauf vor dem Krankenhaus, erfasst mit einem Blick den Wagen der Jagdfreunde und die Blutlache am Boden, rennt hinein und findet seinen Jagdfreund tot in den Armen des Sohnes.

      Was war geschehen?

      F sann erkennbar auf Rache, denn seine „best laid plans of men and mice“ waren zerstoben. Da fügte es sich, dass zu den gemeinsamen Jagdfreunden von F., H. und des Wessis ein Jäger gehörte, den sie schon mehrfach zu F. eingeladen hatten, der sich aber nicht nur als ein Mann schlichten Gemüts erwiesen hatte – auf deutsch: er war dumm wie Stulle! - sondern der nach wenigen Jagdeinladungen bereits so als „Schlumpschütze“, also als völlig unzuverlässiger Schiesser, verschrieen war, dass keiner der Jäger mehr mit ihm zur Jagd gehen wollte.

      Diesem Individuum hatte F. am besagten Abend erst einmal einen oder zwei Schnäpse ausgegeben und dann gesagt, er werde ihn ausnahmsweise heute auf einen der besten Ansitze platzieren, die dieses Revier aufzuweisen habe. Die Schweine würden ihn früh anlaufen, und alles, was er tun müsse, sei, rasch und präzise zu schiessen. Der Blödmann bedankte sich freudig, und F. setzte ihn auf die Lieblingskanzel von O., von der er wie alle anderen wusste, dass sie für jedermann tabu war. F. war sich sicher, dass O. auch an diesem Abend wieder Gäste ansetzen würde, und er wusste, dass O. immer als erster zum Ansitz ging, und so drückte er sich die Daumen, dass der Schlumpschütze mal wieder einen seiner lebensgefährlichen Fehler machen werde.

      Und genau das geschah, wenn es auch den Falschen erwischt hatte. Der Schlumpschütze sah etwas anwechseln im Dunkeln, rechnete nicht mit einem Menschen, und liess fliegen.

      Auf den Schrei hin stürzte er von der Kanzel, rannte zu dem Verletzten, sah, was er getan hatte, hörte den Sohn kommen, rannte ins Unterholz und in einem Bogen sofort zu F. Der, mit Hilfe seiner Freundin, versteckte ihn mehrere Tage lang, während die Kripo vergeblich ermittelte. Dann hatten sie ihn so weit, dass er sich stellte, aber jede Aussage verweigerte, weil er einen Verteidiger gestellt bekam und ein sehr bedeutendes Handgeld. Der Frau des Getöteten wurde, ebenfalls mit viel Geld, die Nebenklage „abgekauft“.

      Der Täter erhielt wegen „fahrlässiger Tötung“ eine Bewährungsstrafe und bereits nach 5 Jahren seinen Jagdschein wieder! Gegen F., den eigentlichen mittelbaren Täter, wurde gar nicht erst ermittelt.

      O. ist heute noch ein erstklassiger Jäger. Aber im „Kruger Busch“ hat er seitdem nie wieder gejagt!

      Holde Jugend

       Wie an dem Tag der Dich der Welt verliehen

       Die Sonne stand zum Grusse der Planeten

       Bist alsobald und fort und fort gediehen

       Nach dem Gesetz wonach Du angetreten…

      Usw. usf.

      Wo er Recht hat, hat er Recht, der Johann Wolfgang. Unabhängig davon, was die meisten Leute denken: wenn unsere Schädlinge erst einmal das Licht dieser Welt erblickt haben, entwickeln sie sich zwangsläufig so, wie es eben kommen muss. Liebe, Vorbild, Zwang, Überredung, Bestechung, Bestrafung – hilft natürlich immer mal ein bisschen, aber letztlich nur marginal. Milieu und Vererbung, der gestirnte Himmel über uns und die Stimme des Gewissens in uns, alles ganz nett, aber letztlich nicht entscheidend. Gene oder die Gestirne?

      Sie kennen das aus unzähligen Gesprächen:

      „Von wem hat er das wohl?“

      „Ganz der Vater, Du Autist!“

      „Kein Wunder, da mendelt sich Deine blöde Mutter durch“

      „Von mir hat er das nicht“

      und

       muss Dein schlechter Einfluss sein!

       Auf mich hört ja keiner,

      usw. usw.

      Natürlich gibt es eine Menge normaler netter Leute, aber eben auch eine Menge von Idioten, Spinnern, Betrügern, Verbrechern usw. Ausserdem gibt es so ambivalente Kombinationen wie Intelligenz gepaart mit Charme und Skrupellosigkeit – Mr. Ripley zum Beispiel. Jedenfalls lehrt uns Goethe: Schau Dir einfach die Kinder an, und Du lernst eine Menge über den späteren erwachsenen Menschen.

      Ich bin am 19. Juni geboren und damit ein männlicher Zwilling. Das sagt alles!

      Zwillinge gelten allgemein als hochbegabt, aber inkonsequent. Können viel, manchmal überdurchschnittlich viel, aber es reicht letztlich nicht; ehrgeizig, aber nicht sehr, der optimale Wirkungsgrad genügt.

      Nehmen Sie also mich: ich spiele eine swingende Jazzklarinette, aber kann keine Noten lesen. Trotzdem kam ich mit Sidney Bechet und Claude Luter klar, so als Band-Einsteiger, aber technisch war ich substandard, also zum Berufsmusiker gänzlich ungeeignet. Ich war ein ganz guter Fechter, aber zu faul zum harten Konditionstraining. Ich war, nee, eigentlich bin ich ein guter Zauberkünstler, vorwiegend Kartenkunststücke, aber eben nur so zum Angeben und Weiber anmachen – Sie werden darüber in diesem Buch noch Einiges lesen! Und so weiter und so fort, mehr Striptease ist zur Zeit nicht nötig, wir werden uns schon noch kennenlernen.

      Welche Wiese?

      Es ist ein strahlend windstiller Sommertag. Die Mittagshitze flimmert über der braunvertrockneten Wiese, die am Ende der Herchenbachstrasse zwischen dem zurückbleibenden Buschwald und den ersten Häusern liegt, da, wo die Strasse steil aus Baden-Baden hochsteigt und dann flacher wird. Ein Stück weit auf der anderen Seite steht eine Bank. Auf der sitzen mein Freund Axel und ich und betrachten aufmerksam eine kleine Rauchsäule, die mitten in der Wiese leise emporsteigt, und langsam stärker wird.

      Wir sind etwas über 9 Jahre alt und sehr unternehmungslustig und, wie wir meinen, verdammt clever. Vor allem sind wir technisch sehr interessiert. Axel ist nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein Fahrlehrer – regelmässig klaut er den Opel Kapitän seines Vaters, der Landarzt in Feldrennach ist, und da er gut fahren kann, bringt er es mir bei.

      Aber natürlich nicht gerade jetzt.

      Denn im Moment führen wir eine empirisch wissenschaftliche Erhebung durch. Axel hat