So hatte sich ein geregelter Tagesablauf eingespielt, bis ein Brief die Familie Hudges erreichte. Er kam von Johns Freund Phil. Er arbeitete jetzt in einer Maschinenbaufirma, die Antriebsmechanismen erforschte und zu Testzwecken baute. Auftragsgeber war die NASA. Phil fragte an, ob John Interesse haben würde, an einem Forschungsprojekt der NASA mitzuarbeiten. Dringend würden dafür sehr gute Biologen gesucht, „Lieber John“, so schrieb Phil, „da du dich nur immer mit Blümchen beschäftigt hast, so war der Gedanke nahe liegend, bei dir einmal anzufragen. Die öffentliche Ausschreibung zu diesem Projekt habe ich zufällig gesehen und dabei an dich gedacht. Bewirb dich einfach mal. Die Bezahlung soll sehr gut sein. Beigefügt dazu einige Unterlagen.“
Auf Miriams Drängen schickte John schließlich seine Bewerbungsunterlagen an die NASA. Vier Wochen später erreichte ihn die Einladung zu einem persönlichen Gespräch in einem NASA-Büro in Orlando, Florida. Alle entstehenden Kosten würden von der NASA getragen und er möge sich auf einen vier bis fünf Tage andauernden Aufenthalt in Orlando einrichten. Flugtickets und der Reservierungsnachweis für ein gutes Hotel waren dem Schreiben als Anlage beigefügt. John und Miriam waren verwundert darüber, dass sich ein Bewerbungsgespräch fünf Tage hinziehen könnte. Andererseits war es eine Besonderheit, von der NASA eingeladen zu werden und wahrscheinlich wurde dort mit anderen Maßstäben gemessen.
Bei den stundenlangen Gesprächen in Orlando stellte John nach und nach fest, dass man alle Stationen seines bisherigen Lebens eingehend durchleuchtet hatte. Zunächst ärgerte ihn diese Tatsache und er drohte mit dem Abbruch der Gespräche, wenn nicht endlich über konkrete und für John nachvollziehbare Ziele gesprochen würde. Er hatte nach zwei Tagen ständig den Eindruck, als befände er sich bei einer Art Inquisition oder in einer polizeilichen Vernehmung.
Am Mittag des dritten Tages war John gereizt und ärgerlich von seinem Sessel aufgestanden und wollte den Raum verlassen, um die Heimreise anzutreten.
„Mr Hudges“, setzte William Tanner, einer der beiden Gesprächspartner von John hastig an, „bitte nehmen Sie einen Augenblick Platz. Ich verspreche Ihnen, die nächsten Minuten können Ihr gesamtes Leben verändern. Bitte, John, hören Sie mir ein paar Minuten zu. Danach können Sie aufstehen und nach Hause fahren. Die Angelegenheit wäre dann erledigt. Oder Sie stehen an der Schwelle einer Zukunft, von der Sie bisher nicht zu träumen gewagt haben.“
„Es soll Ihre letzte Chance sein“, antwortete John etwas übelgelaunt. Langsam setzte er sich wieder in seinen Sessel, beide Hände auf die Armlehnen gestützt, als wolle er sofort wieder aufspringen.
„John, die gesamten bisherigen Gespräche waren für uns dringend erforderlich. Wie Sie zu Ihrem Missmut mitbekommen haben, wurden von uns im Vorfeld eine Vielzahl von Informationen über Sie gesammelt. Ob berechtigt oder unberechtigt, lassen wir das für einen Moment im Raum stehen. Die Auswertung gesammelter Fakten kann zwar vieles aussagen, aber nur wenig über die Persönlichkeit des John Hudges. Und genau die wollten wir möglichst exakt kennen lernen. Sie haben auf uns bisher einen sehr guten Eindruck hinterlassen, John.“ Mr Tanner machte eine Pause und schaute John fest in die Augen. „Wir möchten Ihnen einen Forschungsauftrag übergeben, welcher in der Raumstation ISS platziert wird.“
„Ich soll zur ISS?“, fragte John tonlos.
„Ja“, antwortete William Tanner.
Schweigen. Die Hände Johns entspannten sich und er sank in seinen Sessel zurück. Zur Internationalen Space Station. Mehr als dreihundertachtzig Kilometer über der Erde. Dem größten künstlichen Objekt im erdnahen Weltraum. John konnte es nicht fassen. Er hob den Kopf und antwortete mit trockenem Mund:
„Das geht nicht.“
Wieder Schweigen.
„Und was soll ich da oben?“
William räusperte sich: „Sie sind ein sehr fähiger Wissenschaftler. Sie sind kommunikativ, teamfähig, kooperativ, strebsam, verantwortungsbewusst, körperlich topfit, um nur einige Punkte zu nennen, auf die es bei uns ankommt. Wir würden es gerne sehen, wenn Sie an Bord der ISS einen speziellen Auftrag erfüllen, der hier auf diesem Planeten Erde revolutionäre Folgen haben könnte. Erfolge auf dem Gebiet der Hungerbekämpfung.“
„Das wird ja wohl kein karitativer Auftrag sein, oder?“, hakte John etwas bissig nach.
„Nein, letztlich nicht. Das Projekt wird zunächst einmal hohe Summen verschlingen und im Erfolgsfall sehr viel Geld einbringen. Der wirtschaftliche Faktor ist selbstverständlich auch hierbei maßgebend. Profitieren werden davon sehr viele Menschen in Indien, China, Bangladesch und so weiter.“ „Und was könnte das sein außer Reis?“
William Tanner machte eine kurze Pause und schaute John an: „Es ist Reis – und zwar genmanipulierter Reis.“
„Und was soll ich dabei tun? Ich arbeite nicht an genmanipulierten Pflanzen.“
„John, ich gehe davon aus, Sie kennen Professor Dr. Werner Gron in Atlanta?“ „Ja, eine Kapazität in der Genforschung.“
„Wir möchten Sie zu einem Gespräch mit Professor Gron einladen. Er hat eine bahnbrechende Entdeckung auf dem Gebiet der Genforschung gemacht. Um es kurz zu halten. Ich kenne mich in dieser Materie nur ein wenig aus. Und das was ich sage, hört sich für Sie bestimmt sehr laienhaft an: Professor Gron hat herausgefunden, dass bei bestimmten Anwendungsprozessen bei längerer Schwerelosigkeit eine spezielle Verkettung von Genmanipulationen effektiver und wesentlich schneller zum Ziel führt. Bitte fragen Sie mich jetzt keine Einzelheiten. Tatsache ist, dass eine Reissorte gefunden werden muss, die resistent ist gegen verschiedene Schädlinge, schneller heranwächst und dazu üppigere Frucht trägt. Für Sie dürfte das Ganze eine äußerst spannende Angelegenheit sein.“
„Und warum schicken Sie nicht Dr. Gron nach oben?“
„Der ist erstens zu krank, zweitens zu alt und drittens würde er in diesem Zustand in der Situation der Schwerelosigkeit nicht mehr arbeiten können.“
Einen Moment lang schloss John die Augen. Forschen in der Raumstation ISS. Dass eine solche Gelegenheit auf ihn zukommen würde, hätte er sich wirklich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Gerne wäre er von seinem Sessel aufgesprungen und hätte gejubelt. Ein kaum merkliches Lächeln überflog seinen Mund.
„Mr Tanner, ich gehe davon aus, dass mir eine Bedenkzeit eingeräumt wird.“
„Selbstverständlich. Sie können jetzt die Heimreise antreten und mit Ihrer Familie reden. Unsere Gespräche hier in Orlando sind soweit abgeschlossen. Bitte teilen Sie uns bis Anfang kommender Woche Ihre Entscheidung mit. Wenn Sie sich für ein Ja entscheiden, was wir alle sehr hoffen, so werden wir schnellstens ein Gespräch mit Professor Gron arrangieren.“
Mehr als zwei Jahre waren seitdem vergangen. Mit großer Freude hatte John seine Zusage gegeben. Seine Frau, die Kinder und die engsten Freunde, insbesondere Phil, waren mächtig stolz auf ihn. Die vertragliche Vergütung der NASA und eines Firmenkonsortiums, das beim erfolgreichen Abschluss der Forschungsarbeit die Vermarktung des Endprodukts übernehmen würde, sprengte die finanzielle Vorstellungskraft von John und seiner Frau Miriam.
Während der zweijährigen Vorbereitungszeit im Rahmen des Projektes „ISS“ musste sich John überwiegend im Raum Houston aufhalten. Mit seiner Frau und den Kindern hatte er beratschlagt, ob er in der knapp bemessenen Freizeit nach Washington fliegen sollte oder ob es sinnvoller wäre, mit der gesamten Familie für etwa zwei Jahre nach Houston umzusiedeln. Alle Familienmitglieder waren sich einig, es wäre spannend und interessant, die begrenzte Zeit in Houston zu wohnen. Daraufhin mietete John - sogar mit finanzieller Unterstützung der NASA - für sich und seine Lieben ein kleines Einfamilienhaus am südlichen Stadtrand von Houston an.
John verscheuchte die Gedanken, auch wenn sie angenehm waren. Sein Blick löste sich etwas widerstrebend vom fesselnden Anblick auf den unter ihm dahingleitenden Kontinent und wanderte