Spontan revidierte Schober seinen ursprünglichen Plan zur großen Osteuropa-Rundreise mit Stainzl und Utnig zu potentiellen Kunden: "Ich sehe schon, mein lieber Utnig, Sie und Stainzl haben das voll im Griff. Das soll auch alles in Ihren guten Händen bleiben, das ist sicher. Vielleicht können Sie ja mal den Sauerstein zu einer Tagung mitnehmen und den einen Vortrag halten lassen, das machte der gerne!" Utnigs Gesicht war anzusehen, der erste Teil der Ausführungen Schobers fand seinen Beifall, der zweite weniger.
Der dritte Kundenbesuch sollte ausloten, ob bei der Bleiche von Marktzellstoff die Chancen für eine Verdopplung des Chemikalieneinsatzes gestiegen waren. Eine Serie von Laborversuche war mit positivem Resultat abgeschlossen worden, es fehlte der Wille zur Umsetzungen in der Anlage. Die Änderung wäre kostenneutral, könnte allerdings die Qualität verbessern. Man wurde auf höchster Ebene empfangen.
Der technische Vorstand, Dr. Hallhuber, war gut aufgelegt: "Ihr habt's da einen lustigen Kaufmann in Wien sitzen", erzählte er zur Einführung, "der Spitzlmoser hat uns letzt' zu Preisverhandlungen besucht. Anschließend wollt' er unsere Produktion sehen. Na, der hatte so einen feinen Zwirn an, dunkelblau, wie es sich für euch Kaufleute gehört." Er sah Schober an, der auch so gekleidet war."Ihr wollt halt immer solide wirken, ha, ha. Seid's des aa? Ha, ha."
"Ja, was I sagn' wollt, der Spitzlmoser is’ mit mir durch die Fabrik. Da warn die üblichen Pfützn. Nimmt der Spitzlmoser doch seine Hosenbeina mit dena Händn hoch und sagt 'Huch, hier ist es ja schmutzig!! Sagt der 'schmutzig' zwegn so a bissl Zellstoff am Bodn." Hallhuber stand auf und marschierte auf den Zehenspitzen, mit den Händen die Hosenbeine hochziehend, um seinen Schreibtisch. "So ist er glaufa der Spitzl! I hab mir denkt, I werd nimmer. Wo glaubt der, wo er is? Nacha samma beinhart mittn durch die Sortierung, da war's dann recht, der Stoff is' gschwomma und I bin durch! Da hat er gschaut euer Spitzl! Der musst ja hinterher. Seine Hosnbeina warn nit mehr ganz so rein, da hab I scho für gsorgt." Er schüttelte sich vor Lachen.
Neben den Anekdoten wurde auch noch über das Geschäft geredet. Die Optionen zum veränderten Chemikalieneinsatz wurden von Sauerstein vorgestellt. Hallhuber wollte das bestehende System allerdings erst ändern, wenn die geplante Produktionssteigerung zu einem Engpass bei der on site Herstellung anderer Chemikalien führen würde, die Qualitätsverbesserung brauchte er jetzt nicht, seine Kunden würden das nicht anfragen: "Später, gerne, jetzt nicht. Ich weiß, das geht schnell zu installieren, wenn wir's brauchen. Jetzt hab ich andere wichtigere Dinge oben auf der Liste!"
Utnig bot weitere Versuche an, sein Laborant sei verfügbar, man könne doch die Vorteile nochmal in Experimenten verdeutlichen. Sauerstein verdrehte wieder die Augen und Hallhuber fasste zusammen: "Ja, wenn's nix besseres zu tun habt, kommt's halt vorbei! Zellstoff gibt’s hier genug zum Üben. Ihr werd's mir die Ausbeute schon net versau'n mit den Mengen, die ihr braucht!"
Schober übte nach dem Treffen Kritik: "Sauerstein, Sie haben um den Mehrbedarf nicht gekämpft!"
Der war erstaunt: "Also erklärt hab ich die Möglichkeiten schon, denke ich. Wenn Hallhuber noch nicht will, was kann ich mehr tun? Soll ich den Kunden niederringen? Ich will doch wiederkommen, unbeliebt muss ich mich nicht machen. Als Piefke muss man hierzulande höllisch vorsichtig sein. Ich weiß schon, warum ich hierzulande immer betone, dass meine hessischen Vorfahren in Königgrätz mit Österreich gegen Preußen verloren haben! Der neue Bedarf hier ist nur eine Frage der Geduld, der Hallhuber braucht bald mehr Produkt."
"Ich finde trotzdem, Sie hätte mehr Druck ausüben müssen", antwortete Schober, "Wir brauchen Biss bei unseren Aktionen, jedermanns Liebling sein, bringt uns kein Geschäft!"
Sauerstein fand es nicht sinnvoll, als Service-Leistender auf den Kunden Druck auszuüben, aber Schober ließ sich von seiner Position nicht abbringen. Er meinte: "Man darf Kunden nicht wirklich entgegenkommen, die sollen nur das Gefühl haben, es wäre so."
Utnig setzte sie in Klagenfurt am Flugplatz ab. Nach Lübmüllers jüngsten Erfahrungen hielten sie vorsichtshalber Ausschau, ob Hohlenberger auftauchen würde. Der hatte aber wohl andere Termine, er blieb unsichtbar.
Die Zeit bis zum Abflug verbrachten Schober und Sauerstein mit small talk. Schober erzählte von seiner neuen Freizeitbeschäftigung. "Wir haben viel Platz auf unserem Grundstück. Da hat der Vorbesitzer eine Reihe von Pappeln gepflanzt. Eigentlich ist das ganz schön, wenn man mal von der Blütezeit absieht. Es hält den Wind ab, und gibt Schatten. Leider sind die Bäume jetzt sehr groß und alt. Deshalb werden einige innen faul und müssen gefällt werden. Da bin ich jetzt aktiv! "
"Sie fällen Bäume?" fragte Sauerstein mit Erstaunen in der Stimme.
"Nun, nicht direkt. Ich lasse die fällen, sowas selbst zu machen, wäre zu gefährlich, weil die unkontrolliert umfallen können. Aber ich zerkleinere die Bäume mit Kettensäge und Axt. Das gibt ganz tolles Holz für unseren offenen Kamin. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, ich ernte Holz und mache Sport. Das ist ganz schön anstrengend und wird mich noch länger beschäftigen, weil es noch über 20 Pappeln gibt!"
Sauerstein fiel ein, bis vor kurzem hatte es ganz in der Nähe eine weitere Zellstoffabrik gegeben. Er sagte zu Schober: "Wenn Sie das Treiben hierzulande interessiert, kann ich Ihnen eine hübsche Geschichte erzählen, wie hier Geschäfte laufen. Die reden unsere Sprache, wenn man mal von einigen wenigen besonderen Ausdrücken wie Paradeiser, Erdäpfel, Marillen, Kren und Begriffsverschiebungen wie Sessel für Stuhl absieht. Aber bei Geschäften geht es hier schon sehr Balkanesisch zu."
Da man Zeit zu vertrödeln hatte, war Schober nicht uninteressiert: "Na, dann erzählen Sie mal," erwiderte er.
"Hier gab es über Jahrzehnte Zellstofferzeugung, die Anlage hat zuletzt einem skandinavischen Konzern gehört hat. Es wurde wenig investiert, die Entwicklung ist hier ziemlich vorbeigelaufen. Am Ende war die Anlage zu klein, ohne Abwasserbehandlung, ohne Integration mit einer Papiermaschine. Wenn man mehrere Jahre fast nichts investiert, hat man bald keine Chance wirtschaftlich zu überleben. Die zur Erneuerung erforderlichen Investitionen waren dem Besitzer zu hoch. Also wurde die Stillegung, die Demontage und für die Mitarbeiter ein Sozialplan beschlossen. Alle Zeichen standen auf ein Ende der Produktion. Auch der Werksleiter hatte schon einen neuen Job, nämlich in der Fabrik, die wir gerade besucht haben."
"Da gab es plötzlich ein menschliches Problem. Der Werksleiter hatte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin und forderte auch für sie eine Anstellung beim neuen Arbeitgeber. Leider konnte er entweder nicht überzeugend darlegen, dass er sie brauchte, oder ihre Qualifikation entsprach nicht den moralischen Vorstellungen von Hallhuber und dessen Kollegen, dieses Arbeitsverhältnis kam nicht zustande."
"In vielen Ländern wär's das gewesen. Aber nicht in Österreich. Der Werksleiter hatte plötzlich überhaupt keinen Drang mehr zum Wechseln, im Gegenteil, er zeigte großes Interesse am Fortbestand der alten Fabrik. Und siehe, es fand sich ein Freund mit guten Freunden in der Politik, der Landeshauptmann war bereit, sich den Erhalt der Arbeitsplätze und den Neubau einer Weltklassefabrik etwas kosten zu lassen. Die Kostenrechnung der Skandinavier wurde wiederholt, aber jetzt mit einer anderen Priorität. Plötzlich – ein kleines Wunder – war der Neubau äußerst preiswert und die Anlage künftig ganz einfach wirtschaftlich zu betreiben. Auch der Absatz des Zellstoffs war überhaupt kein Problem. Wie man überraschend feststellte, liegt Österreich sehr zentral mitten in Europa. Das machte die Logistik kinderleicht und billig. Selbst die zuvor als unzureichend bezeichnete Qualität stellte kein Hindernis dar, man war sicher, das Produkt aus der neuen Anlage würde Spitzenpreise bringen. Der neue, lokale Investor hatte seine eigene Ingenieurfirma. Diese wurde mit der Projektleitung beauftragt und man begann zu planen, natürlich gegen Entgelt. Viel Geld wurde verplant, weniger Geld verbaut."
"Ganz umsonst war eine neue Fabrik allerdings nicht zu bekommen. Man baute um die alten, maroden Teile herum etwas Neues, aber es passte nicht so ganz. Die Anlage kam nicht wirklich richtig zustande,