Trotz unserer direkten Absage, lädt uns Maria noch auf einen Kaffee ein, erzählt aus ihrem Leben und von dem kleinen Welpen, den sie letzte Woche gerettet hat.
In den nächsten Tagen besichtigen wir noch weitere Häuser, unter anderem zwei große Wohngemeinschaften (WGs), in denen aber fast ausschließlich Ausländer wohnen. Meine Sorge, dass dort Englisch gesprochen wird, ist zu groß, deshalb suche ich weiter.
„Ist es egal, wie weit man von den engsten Freunden und der Familie entfernt lebt? San José oder Hamburg, wie viele Kilometer zwischen den Orten und meiner Heimat liegen, spielt keine Rolle. Man ist so oder so weg“, stelle ich fest.
„Na, so kannst du das nicht sagen. In Hamburg kannst du dich im Notfall schnell in den Zug setzen“, beginnt Hannah zu grübeln.
„Ja, stimmt. Aber im Moment jetzt gerade, ist es gleich. Diese bunten Häuser und spanisch sprechenden Menschen, die ganze andere Kultur, hier… Das ist zwar schön, aber… Ich bin froh, dass ich dich habe, Hannah“, stelle ich fest.
„Komm, jetzt is’ aber gut. Du bist ja bald wieder zurück!“
„Nein, nein, so meine ich das nicht. Ich bin ja froh, hier zu sein, aber alles ist so neu. So ungewohnt… Ihr alle da drüben fehlt mir unendlich…“ Stille am anderen Ende der Leitung.
„Was macht die Liebe?“, frage ich, während hinter mir ein gelangweilter Backpacker mit Chipstüte entlang schlurft und ein lockeres ‚Hey!‘ ruft.
„Na, du hast ja auf jeden Fall genug Männer um dich rum, bestimmt hübsche Surfer!“
Was soll ich dazu sagen? Sie redet weiter, „ich weiß nicht, hier gibt es eigentlich nichts Neues. Das übliche eben. Ich hoffe der Typ aus der Bücherei spricht mich endlich mal an.“ Ich weiß, dass Hannah gerade alleine in ihrem Zimmer sitzt, vielleicht auf der Ikea-Couch, vor ihr eine der nach frischen Kirschen duftenden Kerzen und neben ihr ein Berg von Kochzeitschriften. Sie liebt es zu kochen und zaubert immer wieder die köstlichsten Kreationen in größter Perfektion hervor.
Wir wechseln erneut das Thema, denn ich möchte nicht weiter daran erinnert werden, dass ich zwar einen Freund habe, wir aber trotzdem beide alleine sind. Ja, vielleicht sind hier viele interessante Männer, aber was soll ich mit ihnen anfangen, wenn ich doch eine Beziehung habe? Ein wenig erzählen, vielleicht auf einen Berg steigen, aber nicht mehr.
Wir quatschen noch kurz über Dortmund und die permanenten Bauarbeiten neben dem Bahnhof, dann verabschiedet sich Hannah ins Bett. Das Telefonieren nach Deutschland gestaltet sich wie erwartet trotz kostenloser Verbindung über das Internet als schwierig, da neben kurzzeitiger Internetausfälle im Hostel auch die sieben Stunden Zeitverschiebung, mein Spanischkurs und die Arbeit meiner Eltern und Freunde mit meinen möglichen Gesprächszeiten kollidieren.
Überall liegen Pärchen auf den Wiesen, beobachten die Bäume und das Sonnenlicht durch die wehenden Blätter der Baumkronen. Wie gerne würde ich jetzt auch hier mit meinem Freund liegen. Während meines Praktikums haben wir uns zumindest jedes Wochenende gesehen, jetzt gibt es nur noch Telefonate.
Ein zweites Mal betrete ich die Sprachfakultät, diesmal für meine erste Unterrichtsstunde. Sie findet im Raum 412 statt, in der dritten Etage nach deutschen Gegebenheiten. Als ich oben ankomme, sitzt unsere Lehrerin Olma schon vor der weißen Tafel, bereit, uns die spanische Sprache näherzubringen.
„Buenos días muchachas!“, begrüßt sie uns und lacht. Dann teilt sie einen genauen Zeitplan aus, der vorschreibt, welche Grammatikmodule an welchem Tag gelehrt werden. Das Programm ist straff, alle drei Tage folgt eine neue Zeitform, dazwischen stopfen etliche Kleinigkeiten die Lücken, Präpositionen und unregelmäßige Verben wollen auch gelernt werden. Sie reicht uns drei Schülern jeweils ein Buch, beziehungsweise eher einen dicken Stapel gebundener Kopien.
„Jeden Freitag schreiben wir eine Klausur und jeder hält einen Vortrag von etwa zwanzig Minuten“, verkündet sie dann und lacht herzhaft. Schon wieder. Ich kann dieses permanente Lachen nicht deuten.
„Ich bin dreiunddreißig Jahre alt und eine richtige Tica!“, leitet sie die Vorstellungsrunde ein und schiebt dabei alle Zettel beiseite. Passend zu ihrem weiteren Lebenslauf klebt sie Bilder an die Tafel. Sie nimmt ein kleines Comichaus und platziert es oben rechts.
„Ich wohne ganz nah bei meiner Familie, das ist mir sehr wichtig.“
Olma spricht langsam und deutlich, wir verstehen fast alles. Sie ist hervorragend vorbereitet, hat alle Infos auf leuchtend grünem und rosafarbenem Papier gedruckt und eingeschweißt. Sogar verschiedenfarbige Stifte zauberte sie aus ihrer Tasche, um an der Tafel Vokabeln, Grammatik und sonstige Lerneinheiten optisch voneinander zu trennen.
Nachdem wir uns alle etwas holprig vorgestellt haben, spielen wir zum Abschied ein kleines Spiel. Wir werfen uns einen großen Plüschwürfel zu, dessen Zahl uns die Person angibt, in der das Verb auf unseren Zetteln konjugiert werden muss. Wenn der Würfel zu Boden fällt, läuft Olma zu ihm hin und reicht ihn uns - freudestrahlend.
„Zeitverschwendung, total sinnlos!“, raunt mir meine Kurskameradin Fulin zu, während Olma sich wieder umgedreht hat, um den Würfel zu packen. Ich weiß nicht so recht, wie ich über diese Methode denken soll und fühle mich ein bisschen wie im Englischunterricht der siebten Klasse. Trotzdem lockert es auf und zaubert sogar den ehrgeizigen Asiatinnen ein Lächeln auf’s Gesicht.
Mittlerweile hat sich die Sonne anderen Kontinenten zugewendet, in good old Germany dürfte es wieder hell sein, in Costa Rica wird es gerade dunkel, es ist 17:44 Uhr. Ich fühle mich wie in der tiefsten Nacht, eine unendliche Müdigkeit lähmt meinen Körper. Wenn ich jetzt im Schlafsaal bleibe, werde ich den Jetlag niemals überwinden.
Stattdessen gehe ich zurück zum Wohnzimmer und sehe mit einigen Backpackern gemeinsam einen amerikanischen Film. Ich fühle mich im Hostel heimisch und spiele mit dem Gedanken, das ganze halbe Jahr hier zu wohnen und die Wohnungssuche nicht auf später zu verschieben, sondern sie mir ganz zu ersparen.
Die Menschen im Film nuscheln ein unverständliches Englisch, die Untertitel sind auf noch viel verwirrenderem Spanisch, mein Kopf denkt Deutsch. Ich hätte Eiswürfel in den Tee werfen sollen, dann wäre er abgekühlt.
Zum Glück gibt es neben den Wörtern auch Bilder. Astronauten fliegen durch das Weltall, ihre unter Glaskugeln versteckten Köpfe schreien, wollen raus aus dem All und zurück zur Erde. Wollen ihre besten Freunde nicht verlieren. Und während sie diese äußerst unbequeme Situation zu meistern versuchen, schweben Bilder aus ihrer Kindheit umher. Warum welcher Astronaut jetzt in eine andere Richtung schwirrt, wer keinen Sprit mehr in seinem Anzug hat und was mit ihrem zuhause, der Raumfahrtzentrale, passiert ist, kann ich anhand der Bilder nicht nachvollziehen.
„Wir werden uns wiedersehen, das verspreche ich dir“, murmelt einer der weiß umhüllten Menschen zu seiner Geliebten und verschwindet.
Ich kuschele mich in die apfelgrüne Fleecedecke und einer der zwei Backpacker auf dem Sessel beginnt herzhaft zu schnarchen. Ich rutsche zufrieden ein wenig an der Rückenlehne herunter, um es mir noch bequemer zu machen. Wenn mein Freund jetzt noch hier wäre, dann wäre die Welt in Ordnung. Aber dann wäre ich jetzt auch nicht hier.
„Hoffentlich treffen die beiden sich wieder!“, kommentiert der schlanke Amerikaner neben mir das Geschehen und starrt weiter auf den großen Flachbildschirm, „ich bin weit gereist, aber so weit werde ich nie gehen.“
Bruce fährt seit Oktober als Motorrad-Backpacker durch ganz Amerika, von den USA bis ins südliche Argentinien, erzählt er mir nach dem Film. Kein Wort Spanisch hat er vor seiner Abreise beherrscht. Trotzdem lernt er bei seiner Tour nebenbei neue Begriffe und Formulierungen, und bald sogar eine Vergangenheitszeitform, so hofft er.
„Man kann nichts Komplexes erklären, wenn man keine Geschehnisse in der Vergangenheit oder Zukunft beschreiben kann. Wie sage ich dem Zollbeamten, dass ich ‚bezahlt habe‘ und nicht ‚bezahle‘?“
Einmal hatte sein Motorrad einen Schaden, da erkundete