Wenn ich einen Ordner kaufe, dann brauche ich auch einen Locher, stelle ich fest, während ich vor der unendlichen Auswahl stehe und mich nicht entscheiden kann. Letztendlich wähle ich eine grüne Mappe mit zehn Fächern, die in einem Angebot um die Hälfte des Preises reduziert ist. In die Mappe passen laut Beschreibung sowohl meine Din A4 Blätter aus Deutschland, als auch die Din B4 Kopien aus Costa Rica. Ich bin begeistert und greife zu.
„Que tenga un buen día!“, strahlt mich die Kassiererin an, als ich bezahle.
Kurze Zeit später, ich schlendere deutlich entspannter zurück, erreiche ich das Hostel unversehrt. Es gab nie einen Grund zur Sorge, wird mir klar, als ich die beim Straßenhändler erstandene Mango in der geräumigen Küche teile, das Fruchtfleisch in Stücke schneide und mit einem Löffel aus der Schale löse. Ich nehme den alten Filzstift, der an einer Kordel vom Griff hinunter baumelt, beschrifte die andere Hälfte mit meinem Namen und lege sie in den großen Kühlschrank, in dem jeder seine Lebensmittel deponieren kann.
Im Zwölfer-Zimmer verstaue ich meinen Rucksack samt Kamera in meinem Fach unter dem Hochbett und lasse das kleine Vorhängeschloss zuschnappen. Dann widme ich mich wieder meinen Zetteln.
Da ich nicht für immer in Hostel wohnen kann und lieber die costa-ricanische Kultur in einer Familie kennenlernen möchte, suche ich eine neue Bleibe. Von Deutschland aus war es kaum möglich, eine Unterkunft zu finden, da es keine entsprechenden Internetportale gibt. Vor Ort ist das viel einfacher, hatte ich recherchiert. Zum Glück habe ich bei meiner Wohnungssuche eine Mitstreiterin gefunden: Annette arbeitet im Hostel und möchte ein eigenes Zimmer beziehen, nachdem sie einige Monate im Mitarbeiterschlafsaal gewohnt hat. Jetzt sehnt sie sich nach Privatsphäre. Zudem stehen in Costa Rica alle Türen offen, sodass man jedes Hupen von der Straße, die Musik vom Fernseher aus dem Nachbarraum und das Gespräch der Mädels aus der Küche hört.
„Ne, ich muss nicht mit Ticos zusammen wohnen, ich möchte nur mein eigenes Reich haben“, bestätigt Annette meine Vermutung.
„Ich kann Telefonnummern auf dem Campus suchen, ich kenne mich da mittlerweile aus“, biete ich an.
„Ja, gut, dann kann ich die Vermieter anrufen“, schlägt sie vor, schließlich hat sie die besseren Spanischkenntnisse.
„Perfekt! Ich gehe dann mal arbeiten, bis später!“, sie verschwindet wieder in der Küche und ich mache mich auf den Weg zur UCR. Dabei gehe ich einen Umweg um den Campus herum, um mir ein besseres Bild von den verschiedenen Wohnvierteln in Uninähe zu machen.
Die staubige Straße westlich der Uni bin ich bereits auf der Suche nach der Sprachfakultät entlang geschlendert. Vor einigen Tagen war das, als ich mich für den Sprachkurs anmelden wollte. Ich hatte zwar eine kurze Bestätigungsmail erhalten, aber diese besagte, dass die finale Anmeldung vor Ort stattfinden müsse. Kein Kurs - kein Studienplatz!
Der Weg vom Hostel zur UCR war nicht schwierig, ich müsste nur diese zweispurige Straße entlang gehen, hatte mir Juan beim Frühstück erklärt, als er einen fünf Liter Behälter mit Pfannkuchenteig für die ganze Hostelmannschaft anrührte. Kurze Zeit später stand ich dann dem San José gegenüber, wie es in allen Reiseführern beschrieben wird: Laut, groß, dreckig, gefährlich. Ein LKW raste klappernd an mir vorbei, gefolgt von einer Kolonne anderer Irrer. Auf dem Gehweg zwischen einer Mauerwand und der Hauptverkehrsstraße, standen mehrere Männer mittleren Alters. Einer musterte mich und kaute dabei auf einem Stück Holz herum, ein anderer schob einen mit Orangen gefüllten Einkaufswagen vor sich her und schrie mir energisch etwas zu, was ich wegen des Lärms nicht verstand. Die Ampel sprang wieder auf Grün und erneut schwebte uns eine riesige Staubwolke entgegen. Ich schaute verstohlen zu Boden, wurde mit jedem Schritt schneller und ärgerte mich, dass ich nicht den komplizierteren, aber dafür sichereren Weg quer über den Campus genommen hatte. Hinter dieser Mauer müsste er doch sein, hoffte ich immer wieder.
Endlich, nach etwa zweihundert Metern führte eine Straße durch eine Lücke zwischen den Mauern hindurch. Das Tor zu einer anderen Welt. Bäume, Pflanzen und Wiesen säumen die Häuser und Straßen, deren Wegesrand signalgelb markiert ist und Studenten stehen vor farbenfrohen Gebäuden. Gerade noch auf der staubigen Straße, befand ich mich plötzlich im Paradies. Als ich jedoch die Sprachfakultät betrat, stand ich zahllosen, mit dicken, schwarzen Gittern verschlossenen Büros gegenüber. Durch die Stäbe der Zelle 138 sprach ich mit der Insassin, die das Schloss über einen Schalter am Schreibtisch öffnete.
„Guten Morgen“, begrüßte sie mich freudig, als die Tür hinter mir wieder ins Schloss fiel. Es gab keine Türklinke. Wir waren eingesperrt.
„Ich heiße Manuela… Für den Sprachkurs anmelden…“, stellte ich mich vor.
„Ja, sehr gerne, Manuela. Ich habe etwas vorbereitet, nehmen Sie doch Platz“, die Dame, kaum älter als ich, sprach sehr langsam und deutlich, nahm mein gefordertes Passfoto in Empfang und ließ mich einen Bogen Papier unterzeichnen, bevor sie das Bild gekonnt aufklebte. Dann wurde es unangenehmer: Schlappe siebenhundert Dollar kostete mich dieser Teil des Auslandssemesters. Andächtig zückte ich meine Visakarte und das Lesegerät begann zu rechnen. Hoffentlich muss ich nicht nur bezahlen, weil die UCR an mir verdienen will. Ich möchte in den nächsten vier Wochen etwas lernen, denn meine aktuellen Sprachkenntnisse bereiteten mir Sorgen. Eine Vorlesung würde ich so kaum verstehen können, geschweige denn eine Klausur und es bleibt nur noch ein Monat bis zum Kursbeginn.
„Morgen geht es mit dem mündlichen und schriftlichen Sprachtest los, um acht Uhr dreißig“, riss die Frau mich aus meinen Gedanken und lächelte.
„Acht Uhr dreißig?“
„Ja, acht Uhr dreißig, also halb neun“, wiederholte sie erneut langsam und deutlich für mich. Sie drückte den Schalter wieder und das Türschloss öffnete sich nach einem knarrenden Geräusch. Ich war wieder frei.
Erfolgreich suche ich nach Wohnungsangeboten auf dem Campus, überall finde ich Zettel an Wänden und Pfeilern, die Telefonnummern zum Abreißen bereit halten. Leider stehen darauf kaum mehr Informationen als ‚Wohnung zu vermieten, 170 Euro, zentral, nahe der UCR‘, sodass Annette und ich überall anrufen müssen, um mehr zu erfahren. Schließlich verabreden wir uns mit einer gewissen Maria, um uns ihr freies Zimmer anzusehen.
Noch am selben Tag treffen Annette und ich die Vermieterin. Die Nachbarhäuser leuchten babyblau, wachsrot, sonnengelb und mintgrün. Zwischen ihren Mauern schlängeln sich kleine Gänge entlang, durch welche wir auf eine große Grünfläche mit wilden Pflanzen schauen können. An der Wand im Wohnzimmer prangt die gelbe Fahne einer politischen Partei über dem Sofa. Das habe ich schon in mehreren Haushalten Costa Ricas gesehen, denn Politikverdrossenheit ist ein Fremdwort. An Wahltagen tragen die Ticos Schals, Trikots und schwenken Fahnen, wie Fans bei einem gigantischen Fußballspiel. Zwei kleine Hunde wirbeln um unsere Füße, im Hinterhof hängt Wäsche vor einer grünen Wand, deren Putz abblättert und eine Staude Bananen liegt in der Ecke unter einem verrosteten Wasserhahn.
„Meine Mutter hat eine Milchkuhfarm. Dahin fährt man vier Stunden mit dem Auto. Da bin ich jede freie Minute“, erklärt María uns, „deshalb bin ich oft nicht hier. Ihr hättet das Haus dann für euch alleine.“
Viel lieber würde ich mit auf die Farm fahren, denke ich mir, als wir unser potenzielles Zimmer betreten. Die dünne Holztür klemmt und lässt sich weder richtig öffnen noch schließen.
„Das repariert mein Bruder noch“, erklärt sie uns, „ich lasse die Wohnungstür auch immer offen. Die Gegend hier ist sehr sicher.“
Eine offene Haustür und dahinter meine Cam? Das Risiko will ich nicht eingehen. Ganz abgesehen von der Festplatte