Die Odyssee. Christoph Laurentius Martin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Laurentius Martin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738087727
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Auch geht es nicht um das Wohl des ganzen Volkes, wenn ich hier vor dem Rat rede, sondern um eine schwierige Lage, in die ich allein geraten bin. Ich habe zwei Probleme: Erstens verlor ich meinen edlen Vater, der ja als Herrscher auch für euch so etwas wie ein Vater war. Zweitens kam es noch schlimmer, denn es sieht jetzt so aus, als würde ich zudem meinen gesamten Besitz und Hausstand verlieren. Meine Mutter wird, ob sie es will oder nicht, von einer Horde Freier belagert. Es sind das zwar alles ganz nette Menschen, Söhne der angesehensten Familien des Landes, doch weigern sie sich, den üblichen Weg der Brautwerbung über Ikarios zu gehen, den Vater Penelopeias, der meine Mutter mit dem Mann verheiraten müsste, der ihm qua Brautpreis und Sympathie am passendsten scheint. Aber nein, sie kommen Tag für Tag in unser Haus, schlachten für ihre Festgelage unsere Kühe, Schafe und fetten Ziegen, trinken unseren roten Wein, unbekümmert und in unglaublichen Mengen. Es ist niemand da wie Odysseus, der gegen diesen Skandal einschreiten könnte. Ich jedenfalls bin zu schwach dazu. Unsere Zukunft sieht düster aus, wir sind ratlos und wissen uns nicht zu helfen. Ja, wenn ich die Macht und die Mittel hätte, würde ich mich schon wehren, denn es ist nicht mehr schön, wie unser Haus verkommt.

      Die Zustände sind unerträglich und sollten auch euch beunruhigen. Schämt ihr euch denn nicht vor den Nachbarn in der ganzen Umgebung? Habt ihr keine Angst vor dem Zorn der Götter, die sich aus Wut über die Übeltaten gegen euch wenden könnten? Ich jedenfalls flehe euch an, beim Zeus im Olympos und bei der gerechten Themis, der Schirmherrin aller Versammlungen: Macht dem bösen Treiben ein Ende, Leute! Jetzt! Isoliert und völlig am Boden zerstört würde ich vor euch stehen, wenn ihr es nicht tut. Hätte mein Vater Odysseus euch freie Achaier je beleidigt oder schlecht behandelt, hättet ihr Grund, mich als Feind zu betrachten und die Freier, eure Söhne, gegen mich aufzuhetzen! Dann wäre es ehrlicher, wenn ihr alle meine Herden schlachten würdet. Und nehmt euch doch gleich meine Güter, meinen ganzen Besitz! Dann werde ich wenigstens die Genugtuung haben, als Bettler durch die Stadt laufen zu können und euch mit meinen Klagen auf Wiedergutmachung zu nerven, bis ich alles wieder zusammengebettelt habe. So wie jetzt darf es nicht weitergehen, das halte ich nicht aus!"

      Wütend warf er den Rednerstab auf den Boden, seine Augen waren voller Tränen. Alle waren betroffen, manche hatten sogar Mitleid. Schweigend saßen sie da, keiner hatte den Mut, etwas gegen Telemachos vorzubringen. Nur Antinoos sagte nach einer Weile:

      "Telemachos, du Großmaul, das geht zu weit! Du verbreitest da Vorwürfe, die uns in ein äußerst schlechtes Licht rücken. Aber wir Achaier, die wir um Penelopeia werben, sind vollkommen schuldlos. Deine liebe Mutter selbst ist verantwortlich, sie hat die Dinge geschickt und mit Berechnung so arrangiert. Es geht nun schon drei Jahre, das vierte wird auch bald voll sein, dass sie mit den Gefühlen der Achaier Schindluder treibt und uns an der Nase herumführt. Sie macht uns Hoffnungen! Zwar vertröstet sie uns, aber dann sendet sie immer wieder eindeutige Signale aus und ermuntert jeden einzelnen von uns in seiner Freierrolle. In Wirklichkeit spielt sie ihr eigenes Spiel. Zum Beispiel hat sie sich folgenden Trick ausgedacht: Sie stellte in ihrem Gemach einen Webstuhl auf und begann, ein riesiges, feines Leinentuch zu weben. Uns sagte sie: 'Ihr jungen Männer, die ihr um mich werbt, da der edle Odysseus tot ist, ich bitte euch, drängt mich nicht zur Heirat, bis ich dieses Stück fertig gewebt habe. Sonst wäre ja der ganze Faden unnütz verschwendet! Ich mache ein Leichentuch für den Helden Laertes, damit in der Stunde, da ihn das düstere Los des Todes trifft, keine achaische Frau mir nachsagen kann, der alte hochverdiente Fürst läge ohne standesgemäße Bedeckung auf dem Totenlager.' Das war ihr Argument, mit dem sie uns Gutgläubige übertölpelte. Nun webte sie tagsüber fleißig an dem riesigen Tuch, trennte es aber nachts, im Fackelschein, regelmäßig wieder auf. So führte sie die Freier hinters Licht, ganze drei Jahre lang. Doch als dann schließlich das vierte Jahr heraufzog und die Horen den Kreis der Jahreszeiten vollendet hatten, da verriet es uns eine der Dienerinnen, die Bescheid wusste, und wir ertappten die feine Frau dabei, wie sie das Laken gerade mal wieder auftrennte. Von da ab musste sie, ob sie wollte oder nicht, die Arbeit zu Ende bringen.

      Nun, Telemachos, dies ist die Antwort der Freier, dir an erster Stelle rate ich, sie ernst zu nehmen; alle anderen Achaier wissen damit auch, was der Stand der Dinge ist. Sag deiner Mutter, sie soll endlich das Haus verlassen und den Mann heiraten, den ihr Vater akzeptiert und den sie selbst mag. Wenn sie die Söhne der Achaier noch länger zum Narren halten will und allzu selbstbewusst auf die weiblichen Gaben vertraut, die Athene ihr in die Wiege gelegt hat - herrliche Handarbeiten anzufertigen, einfühlsam, sensibel und klug zu denken, aber auch hinterlistige Intrigen einzufädeln, wie wir sie noch niemals von einer Achaierin geboten bekamen, wie sie auch von den Frauen der Vorzeit nicht bekannt sind, nicht von Alkmene und Tyro oder der liebestollen Mykene, die alle bei weitem nicht so einfallsreich taktierten - kurzum, wenn sie so weitermacht, wird sie nicht gut damit fahren. Die Männer, die um sie freien, werden so lange weiter von deinem Vermögen zehren, wie sie ihr Spiel mit ihnen treibt, an dem die Götter sie anscheinend Gefallen finden ließen. Zwar gewinnt sie für sich unvergleichliches Ansehen und einen Ruf über die Landesgrenzen hinaus, doch du wirst dabei deinen ganzen Besitz los, Telemachos. Denn wir gehen erst dann auf unsere Güter zurück oder anderswohin, wenn sie einen von uns Achaiern zum Mann genommen hat."

      Der bedächtige Telemachos erwiderte: "Antinoos, ich kann doch meine Mutter, die mich zur Welt gebracht und aufgezogen hat, nicht einfach aus dem Haus jagen, zumal ich nicht weiß, wie es um meinen Vater steht. Auch wäre es sehr hart für mich, die hohe Mitgift zurückzahlen zu müssen, die fällig wäre, wenn ich sie eigenmächtig ins Haus ihres Vaters schickte. Und kommt mein Vater doch noch heim, macht er mich dafür fertig! Noch schlimmer würden die Daimonen mich strafen, falls meine Mutter mich verfluchte und beim Verlassen des Hauses die Göttin der Rache anriefe, die grausame Erinnys. Und überhaupt: Kein vernünftiger Mensch würde mein Verhalten billigen. Kurz, ich kann sie nicht aus dem Haus vertreiben, und wenn euch meine Weigerung, das zu tun, nicht passt, dann verlasst doch selbst das Haus. Geht einfach anderswo essen, wo ihr selbst bezahlen müsst. Oder ladet euch gegenseitig ein, in eure eigenen Häuser. Aber euch passt es ja viel besser in den Kram, ohne Gegenleistung einen Wehrlosen auszunutzen. Macht ihr nur weiter so, ich aber werde die ewigen Götter anrufen! Wenn dann Zeus zur Tat schreitet und mir Rache gönnt, werdet ihr keine Gelegenheit mehr bekommen, eure Schulden zu begleichen, bevor ihr zugrunde geht."

      Genau in dem Moment, als Telemachos dies sagte, ließ Zeus, der weithin schaut und alles sieht, vom Gebirge her zwei Adler herabfliegen. Majestätisch schwebten sie auf dem Wind heran, dicht beieinander, ohne einen Flügelschlag. Als sie genau über dem Markt waren, begannen sie zu kreisen, mit den Flügeln zu schlagen und unheildrohend auf die Menge herunterzublicken. Dann hackten sie mit den Schnäbeln aufeinander ein, schlugen sich gegenseitig die Fänge in die Hälse und schossen schließlich nach rechts über die Häuser und Menschen hinweg.

      Die aber sahen staunend die riesigen Vögel und fragten sich bang, was dieses Zeichen für ihre Zukunft bedeutete. Halitherses, der greise Held, Mastors Sohn, ergriff das Wort. Er war der Begabteste in der Deutung des Vogelflugs und verstand die Winke des Schicksals:

      "Ihr Ithaker, hört, was ich euch prophezeie! Besonders richte ich mich an die Gruppe der Freier. Für sie zieht Unheil herauf. Denn wahrlich, ich sage euch, nicht mehr lange wird Odysseus den Seinen fernbleiben, schon ist sein Kommen nahe. Tod und Verderben wird er den Freiern bringen! Und auch manch anderem von uns, die wir Ithaka, das aus der Ferne gut sichtbare, bewohnen, droht Unheil. Lasst uns, bevor es dazu kommt, überlegen, was wir gegen das dreiste Verhalten der Freier tun können. Eigentlich sollten sie es einsehen, denn sie selbst hätten letzten Endes den größten Vorteil davon. Ich prophezeie keineswegs einfach drauflos, sondern aus reicher Erfahrung. Schon jenem hat sich alles wortwörtlich erfüllt, wie ich es vorhergesagt hatte, dem, der mit den Argeiern nach Troja zog, dem Mann der tausend Schliche, Odysseus. Nach dem Verlust aller seiner Gefährten, nach unendlichen Leiden, so sagte ich damals, wird er, von niemandem, nicht einmal von den Seinen erkannt, im zwanzigsten Jahr in seine Heimat zurückkehren. Das alles wird sich jetzt erfüllen."

      Darauf entgegnete Eurymachos, der Sohn des Polybos: "Mach, dass du nach Hause kommst, Alter, beglücke deine Enkel mit deinen Orakeln, damit ihnen nur ja nichts Böses zustößt. Ich weiß sehr genau und ohne Hokuspokus, was wirklich ist. Im Licht der strahlenden Sonne fliegen unzählige Vögel herum, und nicht alle verkünden irgendein Schicksal. Tatsache ist, dass Odysseus