„Was wissen wir vom Opfer?“, warf Bobby fahrig ein. Unbewusst rieb er seinen Ellenbogen und starrte angespannt die Treppe hinauf.
„Tja“, brummte Steinmann. „Wieder ein alter Bekannter. Walter Merkmann.“
„Merkmann?“, fragte ich ungläubig. „Der Merkmann?“
Der Name brachte unangenehme Erinnerungen hoch. Vor etwa einem Jahr hatte Walter Merkmann in Düsseldorf traurige Berühmtheit erlangt. Sein Freispruch war über Wochen das vorherrschende Thema in der Presse gewesen. ‚Gericht spricht Kinderschänder frei’, hatte eine der großen Boulevardblätter getitelt. Doch der empörte Aufschrei in der Bevölkerung war nicht unberechtigt. Walter Merkmann war der Polizei aufgefallen, als er zufällig mit einem internationalen Kinderschänderring in Verbindung gebracht wurde, der nach langjähriger und mühevoller Ermittlungsarbeit zerschlagen werden konnte. Sichergestellte Schriftstücke deuteten darauf hin, dass Merkmann ein guter Kunde der Bande gewesen war. Der alte Fuchs, ein Kinderarzt im Ruhestand, hatte es jedoch ausgezeichnet verstanden, seine eigenen vier Wände sauber zu halten. Auf seinem Computer waren nur ein paar wenige, verschwommene Bilder zu finden gewesen, die dem Gericht auch mit der dubiosen Verbindung zu offiziell verurteilten Kinderschändern nicht für eine Verurteilung ausgereicht hatten. Auch die Anzeigen zweier Familien, die Merkmann sexueller Übergriffe gegenüber ihrer Kinder bezichtigten, waren kurz darauf aus unerfindlichen Gründen zurückgezogen worden. Es war dem Gericht nichts anderes übrig geblieben, als Merkmann aufgrund der dürftigen Beweislage freizusprechen.
Nach dem Urteil hatte Merkmann den Wohnsitz gewechselt und war in diese Gegend gezogen. Dieser Stadtteil konnte mit Fug und Recht als gesellschaftlicher Abstieg für einen wohlhabenden Rentner gewertet werden. Trotz gewaltiger Geldabgänge von seinen Konten konnte ihm jedoch nie zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass zwischen ihm und den anklagenden Familien Schmiergelder geflossen waren. Die Polizei war machtlos, doch auch der soziale Druck ebbte mit der Zeit ab. Nach ein paar Wochen hatte das mediale Interesse an Merkmann merklich nachgelassen und der Vorfall war im Grundrauschen der alltäglichen Berichtserstattung zur Randnotiz verkommen. Merkmann hatte sich danach aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er war nach diesen Ereignissen nicht wieder polizeilich in Erscheinung getreten, jedenfalls bis heute.
„Todesursache?“, hakte ich nach.
„Der Kerl ist anscheinend verblutet.“
„Und die Mordwaffe?“
„Ein Messer. Keine Fingerabdrücke.“
„Ein Messer!?“, mischte sich Bobby ein. „Das entspricht nicht unserem Täterprofil. Laut Obduktion ist Bruno Bauer gewaltsam eine Überdosis verabreicht worden. Erfahrungsgemäß ändert ein Serienmörder seinen Modus Operandi nicht. Das würde eher für mehrere Täter sprechen.“
Bobby hatte Recht. Die Erfahrung hat in den meisten Fällen gezeigt, dass ein Täter – gerade bei sexuell motivierten Morden - als Spielball seiner Triebe und seiner Phantasien immer einem gewissenhaften Ablauf folgt, der ihm den meisten Lustgewinn verspricht. Es ist absolut ungewöhnlich und selten bei einem Serientäter, dass er im Laufe seiner Taten seine Mordmethode wechselt. Im Grunde ist eher mit einer Verfeinerung seiner perfiden Gelüste zu rechnen.
„Dennoch sind wir sicher, dass es sich um den gleichen Täter handelt“, widersprach Steinmann. „Es ist nahezu ausgeschlossen, dass Bauer und Merkmann von unterschiedlichen Tätern umgebracht worden sind. Das ‚R’ spricht für sich. Wir können allenfalls von gemeinschaftlichen Morden ausgehen.“
Er nickte vehement, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Es war das Standardvorgehen der Polizei, eindeutige Merkmale eines Mordes, wie in diesen Fällen das ‚R’ als Visitenkarte des Mörders, gegenüber der Öffentlichkeit zu verschweigen. Auf diese Weise wird es vereinfacht, Morde des gesuchten Serientäters von Morden von Nachahmungstätern unterscheiden zu können. Es war im hohen Maße unwahrscheinlich, bei zwei voneinander unabhängigen Morden dieselben Spuren vorzufinden.
„Bei Bauer hat er sich viel Zeit gelassen. Der Obduktionsbericht hat eine Tortur von nahezu vier Stunden bestätigt“, warf ich ein. „Das ist ein Kernelement der Profilanalyse unseres Täters. Und diesmal soll er sich damit begnügt haben, Merkmann einfach abzustechen?“
„Das habe ich nicht gesagt. Er hat Merkmann ebenso gefoltert wie Bauer.“
Steinmann blickte sich misstrauisch um, ob jemand in Hörweite stand, und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Der Gerichtsmediziner geht davon aus, dass es mindestens eine halbe bis eine Stunde gedauert hat, bevor Merkmann verblutet ist.“
„Eine Stunde?“, fragte ich. „Von was für Verletzungen sprechen wir denn?“
Steinmann schluckte merklich. „Merkmann wurde kastriert.“
21 Tage davor
Obwohl die Spurensicherung den Tatort bereits freigegeben hatte, blieb ich für einen kurzen Moment zögernd auf der Türschwelle stehen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was mich erwartete. Ich verspürte keinen Drang, auch noch das Bild Merkmanns zu meiner Bildersammlung menschlicher Grausamkeiten hinzuzufügen. Bereits jetzt hatte ich Probleme damit, die Schrecken des Tages ausblenden zu können, in der Dunkelheit der Nacht gefangen in einem sich ewig drehendem Gedankenkarussell der Schreckensbilder. Bilder, die endgültig waren, Bilder, die sich nicht mehr ändern ließen.
Allein beim Gedanken an Merkmanns unnatürlichen Tod verspürte ich ein unangenehmes Ziehen in meiner Leistengegend. Doch es gehörte zu meinem Job, mich mit den Abgründen der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Mir waren schon viele Straftäter begegnet, die offenkundig in einem perfekten Lebensidyll lebten, während unter der bürgerlichen Fassade bereits der Wahnsinn gewütet hatte. Der menschliche Verstand ist nichts anderes als ein schmaler Grat in dem Kampf zwischen Gut und Böse; viele kommen vom rechten Pfad ab, getrieben durch alles verändernde Tragödien in ihrem Leben: Sei es der betrogene Ehemann, der gekündigte Arbeitnehmer, oder der unerwartete Verlust von geliebten Menschen. Niemand ist davor gefeit, urplötzlich vor dem Abgrund seiner Existenz zu stehen und sich zu Entscheidungen gezwungen zu fühlen, die man vorher niemals in Betracht gezogen hätte. Oftmals fand ich Trost in dem Gedanken, dass wir als Polizei Wächter vor dem weit offen stehenden Tor zur Anarchie waren, sozusagen die letzte Bastion der Vernunft. Die Ritter in der grünen Rüstung. Haha. Doch es sollte sich noch zeigen, dass auch Bobby und ich emotional ebenso instabil waren wie der Rest der Menschheit. Wie gesagt, es kann jeden treffen, das ist die bittere Lektion aus dieser Geschichte.
„Was ist los mit dir? Traust du dich nicht?“, fragte Bobby frotzelnd hinter mir. „Keine Eier in der Hose?“ Er lachte schräg über seinen eigenen Witz und klopfte mir von hinten auf die Schulter.
„Bitte!“, flehte ich und versuchte das zunehmend flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du dir diese Art von Witzen verkneifen könntest.“
Bobby legte eine betroffene Miene auf. „Tut mir leid!“, versicherte er wenig glaubhaft. „Mir war nicht bewusst, dass du so hart an dieser Nuss zu knacken hast.” Er lachte erneut und drängte sich an mir vorbei in die Wohnung.
„Ich meine das ernst!“, beschwerte ich mich. „Sagt dir das Wort ‚Pietät’ etwas? Respekt vor den Toten?“
Schlagartig hörte Bobby auf zu lachen und drehte sich mit finsterer Miene zu mir um. „Respekt? Vor Merkmann?“, fragte er ungläubig. „Beim besten Willen kann ich kein Mitleid für dieses Monster aufbringen!“ Mit einem abfälligen Schnauben wandte er sich ab. „Dieser Kerl war ein Kinderschänder! Abschaum! Ich würde seinem Mörder einen Orden verleihen, wenn ich könnte.“
Ich war ehrlich überrascht über seinen Stimmungswandel. Normalerweise brachte ihn nichts so schnell aus der Ruhe. Aber was