Das hellgelb gestrichene Haus Uhlandstraße 141 war ein typischer Altbau vom Anfang des vorigen Jahrhunderts mit Erkern und Balkonen. Im Erdgeschoss befanden sich ein Kosmetikstudio und ein Geschäft für Teppichböden und Tapeten. Valerie drückte den Knopf auf dem Klingelschild neben dem Namen Breuer, woraufhin sogleich der Summer ertönte. Oben erwartete sie eine adrett gekleidete Frau, Mitte fünfzig, mit feinen, blonden Haaren und sehr hellen, etwas trüben Augen.
»Ja, bitte?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Guten Tag, Frau Breuer. Mein Name ist Voss, und das ist mein Kollege Herr Wieland. Wir kommen vom LKA Berlin. Dürfen wir einen Moment hereinkommen?«
»Ja, bitte! Gehen Sie doch durch ins Wohnzimmer! Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, danke. Wir würden Ihnen gern ein Foto zeigen mit der Frage, ob es sich bei der abgebildeten Person um Ihre Tochter Imogen handelt.«
»Einen Augenblick, ich hole meine Brille.«
Als Tatjana Breuer mit ihrer Lesebrille auf der Nase wiederkam, reichte ihr Valerie das Foto.
»Ja, das ist Imogen«, sagte die Frau und schluchzte auf. »Sie ist tot, nicht wahr?«
»Es tut mir leid, Frau Breuer. Ihre Tochter war in einen Verkehrsunfall auf der Stadtautobahn verwickelt.« »Das kann nicht sein. Imogen besitzt keinen Führerschein.«
»Man kann auch als Beifahrer ums Leben kommen. Da sie keine Papiere bei sich trug, war sie für uns unbekannt. Doch ein Aufruf zur Mithilfe ließ sich eine ehemalige Mitschülerin namens Nina Dietz bei uns melden. Sie meinte, auf Anhieb Ihre Tochter zu erkennen. Deshalb sind wir hier.«
»Ja, die Nina war ein liebes Mädchen. Die beiden waren sehr gut befreundet.«
»Frau Dietz gab an, Imogen habe sich mit den Jahren sehr verändert. Weniger vom Aussehen her als vom Verhalten.«
»Kein Wunder, dass es Nina nicht entgangen ist. Wir haben ja unser eigenes Kind kaum wiedererkannt. Sie lief plötzlich nur noch mit dunkler Kleidung und schwarz umrandeten Augen herum. Mein Mann war entsetzt, dass sich unsere Tochter zum „Grufti“ wandelte. Bald darauf zog sie aus und ließ sich kaum noch sehen. Bei einem ihrer seltenen Besuche wollte sie Lamai von uns genannt werden. Ulrich hat sich totgelacht und gefragt, ob sie jetzt völlig durchdrehe. Ich machte mir große Sorgen, wie man sieht, nicht zu unrecht.«
»Der Umstand, dass sich Ihre Tochter der sogenannten Gothic-Bewegung anschloss, ist allein noch nicht ungewöhnlich«, sagte Heiko. »Seit der Stil Anfang der 80er Jahre in Mode kam, fand er viele Anhänger unter den Jugendlichen, die Namensänderung gibt schon eher zu denken. Halten Sie es für möglich, Imogen habe sich einer Sekte angeschlossen?«
»Ich weiß es nicht. Mein Mann hat das auch sofort vermutet, aber ich dachte, sie sei zu misstrauisch für so etwas.«
»Wo ist Ihre Tochter hingezogen, Frau Breuer?«, wollte Valerie wissen.
»In eine Einzimmerwohnung in Neukölln. Wir waren entsetzt und haben sie dort nur einmal besucht. Ein richtiges Loch, kann ich Ihnen sagen. Unvorstellbar, dass man so wohnen kann. Na, lange ist sie dort auch nicht geblieben. Sie meinte, jetzt in einer schönen, alten Villa zu wohnen, unter Gleichgesinnten.«
»Hat sie die Straße oder wenigstens den Bezirk erwähnt?«
»Nein, sie machte ein großes Geheimnis darum. Angeblich deshalb, weil dort Besuche nicht erwünscht sind. Ach, ich hatte gleich so ein komisches Gefühl. Aber sie wollte ja nicht hören.«
»Hat Ihre Tochter studiert?«
»Nein, nach der zehnten Klasse hat sie die Schule verlassen, um eigenes Geld zu verdienen. Sie hat dann im Kaufhaus gearbeitet, aber da gab es immer wieder Ärger wegen ihrer Aufmachung. Dann fing sie in einem Secondhand-Laden an, wo sie es ziemlich lange aus-gehalten hat. Später in so einem Café für junge Leute, doch da wohnte sie schon nicht mehr bei uns. Als wir sie einmal dort besuchen wollten, hieß es, sie habe gekündigt.«
»Seltsamer Weise ist die Meldeadresse noch immer diese Wohnung hier. Demnach hat sie sich weder in Neukölln noch in der letzten Unterkunft angemeldet.«
»In Neukölln vielleicht deshalb nicht, weil es nur so kurz war. Aber warum danach nicht, muss wohl mit der großen Geheimniskrämerei zu tun haben. Halten Sie es für möglich, dass man sie dort umgebracht hat?«
»Davon gehen wir aus«, sagte Heiko. »Zumal Ihre Tochter zum Zeitpunkt des Unfalls bereits tot war.«
»Was sind das nur für schreckliche Leute, die eine solche Macht über andere haben und sich gegenseitig umbringen? Etwa diese Scientology Sekte, von der man immer wieder hört?«
»Das muss nicht zwingend der Fall sein. Es gibt da ganz unterschiedliche Strömungen. In einer Zeit des allgemeinen Werteverfalls und dem Siegeszug des Atheismus sind die jungen Menschen auf der Sinnsuche, zum Teil auf recht absonderlichen Wegen. Aber egal ob Scientology oder nicht, umgebracht werden für gewöhnlich nur Mitglieder, die die Absicht haben, sich aus der Gemeinschaft zu lösen. Wahrscheinlich wollte Ihre Tochter nicht mehr mitspielen. Das konnte man nicht zulassen.«
»Warum ist sie in ihrer Not nur nicht zu uns gekommen?«, jammerte Frau Breuer. »Wir hätten sie doch mit offenen Armen aufgenommen.«
»Da können unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen«, sagte Valerie. »Sie mag sich geschämt haben oder wollte sie nicht auch noch in Gefahr bringen.«
»Ja, das wird es sein. Im Grunde war sie ein gutes Kind und ist wohl nur an die falschen Leute geraten. Glauben Sie, Sie werden die Verantwortlichen ausfindig machen können?«
»Es wird keine leichte Aufgabe sein, aber wir tun unser Bestes. Sie werden benachrichtigt, wenn die Leiche freigegeben wurde, damit Sie die Beisetzung veranlassen können.«
»Danke, für alles.«
»Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass wir eine Adresse auf dem Silbertablett serviert bekommen«, sagte Valerie auf der Rückfahrt, »aber wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt. Doch jetzt sind wir so schlau wie bisher.«
»Vielleicht wird es noch mehr Opfer geben, und irgendwann machen die mal einen Fehler«, meinte Heiko.
»Die Staatsanwältin springt dir mit dem nackten Allerwertesten ins Gesicht, wenn sie das hört. Den Täter erst stellen zu können, wenn es ein weiteres Opfer gibt, hält sie für glattes Versagen unsererseits. Da ist sie sich mit Schütterer ziemlich einig.«
»Aber was sollen wir denn machen, wenn es keine Anhaltspunkte gibt? Die Spuren auf der Brücke waren äußerst unergiebig. Wir können doch nicht alle religiösen Fanatiker, die es in der Stadt gibt, abklappern.«
»Das hatten wir schon mal. Aber wenigstens gab es da einen Anlaufpunkt. Vielleicht meldet sich ja noch jemand auf das Foto hin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lamai in dem Haus gefangen gehalten wurde. Irgendwann wird sie doch auch mal rausgegangen sein. Apropos, das ist jetzt zwar eine schlechte Überleitung, aber Hinni und ich sind der Meinung, dass es Zeit wäre, dass du uns einmal besuchst. Du wirst von Hinnis Kochkünsten begeistert sein.«
»Ja, herzlich gern, auch ohne Kochen.«
»Gut, du darfst auch jemanden mitbringen, wenn du magst.«
»Das hat Zeit. Nicht alles auf einmal. Zunächst komme ich mal allein. Habt ihr schon einen Termin im Auge?«
»Ja, zum Beispiel dieses Wochenende.«
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