»Was soll das heißen?«
»Lamai ist nicht auf der Fahrbahn, sondern auf dem Dach eines Pkw gelandet«, sagte Caja, »daraufhin hat es eine Massenkarambolage gegeben.«
»Weil ihr unfähig seid, die einfachsten Aufgaben zu erfüllen«, tobte Delano. »Was im Verborgenen geschehen sollte, zieht jetzt die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich.«
»Beunruhige dich nicht, Liebster! Unser Bruder und unsere Schwester sind ja unbeschadet zurück-gekehrt. Und wenn sie nicht verfolgt worden sind, weist nichts auf unser Haus hin«, meinte Merida, die deutlich älter als Caja war, aber bei Delano eine Sonderstellung einnahm.
»Keine Sorge, erste Schwester. Uns ist niemand gefolgt«, sagte Vidar.
Die Anwesenden und auch die übrigen Bewohner des Hauses trugen allesamt Fantasienamen, teils aus dem Keltischen, teils aus dem Germanischen, und hatten von Anfang an ihre bürgerlichen Namen ablegen müssen. Dafür hatten sie freie Kost und Logis und genossen einen gewissen Schutz innerhalb der Mauern des düsteren Anwesens. Freilich hatten sie ohne Wenn und Aber zu arbeiten und Minnedienste zu verrichten. Doch zum Ausgleich durften sie an schwarzen Messen teilnehmen, die für gewöhnlich in sexuelle Orgien ausarteten und bei denen es mitunter auch Menschenopfer gab. Doch selten traf es dabei Mitglieder der Gemeinde wie Lamai, die sich den Regeln wiederholt widersetzt hatte, sondern neu Angeworbene oder zufällig Ausgewählte, die niemand vermisste.
Die Hierarchie erinnerte ein wenig an den chinesischen Film „Die Rote Laterne“. Wobei Delano die Rolle des Herrn einnahm. Sein selbstgewählter Name bedeutete: „dunkel, durch die Nacht“ – von: „de-la-nuit“ beziehungsweise „de-la-noche“. Er war der Hohepriester und herrschte uneingeschränkt. Seine Frau Merida, der Name bedeutete im Spanischen soviel wie: “Eine, welche einen hohen Platz der Anerkennung erlangt hat“, wurde „erste Schwester“ genannt und nicht etwa „erste Herrin“ wie im Film. Auch wurden keine roten Laternen aufgestellt, wenn Delano die zweite, dritte oder vierte Schwester nachts heimsuchte.
Merida ertrug es mit Gleichmut, wenn sich Delano mit den jüngeren Schwestern vergnügte. Nur unter denen gab es gelegentlich Eifersüchteleien, die Delano eher amüsierten, die er jedoch zur Wahrung des Scheins mit harten Strafen ahndete. Belana und Ferun, die dritte und vierte Schwester erlangten damit immer wieder Aufmerksamkeit, während Elfrun, die zweite Schwester sich mehr wie Merida verhielt.
»Euch ist doch klar, dass ihr bestraft werden müsst?«, fragte Delano. »Ich werde mir etwas für euch überlegen. Schließlich habt ihr durch euer tölpelhaftes Verhalten unser aller Sicherheit bedroht.«
»Wir nehmen die Strafe auf uns, wie sie auch ausfallen mag«, sagte Vidar, und Caja nickte eifrig zustimmend.
»Ich weiß, dass ihr euch schon lange wünscht, in den Priesterstand aufzusteigen«, führte Delano seine Rede fort. »Nun, ihr sollt Gelegenheit zur Bewährung bekommen. Du, Caja, indem du die Ekelprüfung vorzeitig ablegst, und du, Vidar, mit der Gruselprüfung, die du so fürchtest. Zusätzlich werdet ihr beide zehn Stunden Gartenarbeit verrichten, ohne Essen und Trinken.«
»Es geschehe, wie der Meister wünscht«, sagten Caja und Vidar im Chor.
Beiden war bei dem Gedanken, was auf sie zukam, nicht wohl, aber sie wussten, dass es keinen anderen Weg gab, in der Hierarchie ein Stück weiter nach oben zu gelangen.
Hinnerk saß am Morgen etwas missmutig am Frühstückstisch. Valerie schrieb das seiner Müdigkeit zu, oder allenfalls seiner alten Schussverletzung, die sich hin und wieder bemerkbar machte.
»Was gab’s denn so Wichtiges mitten in der Nacht?«, fragte sie wie nebenbei.
»Einen schweren Unfall auf der A100. Dabei wurde eine Leiche entdeckt, die etliche Stichverletzungen und satanische Symbole aufwies. Natürlich war sie nicht zu identifizieren.«
»Na bravo! Das heißt wieder einmal die Nadel im Heuhaufen suchen.«
»Ja, aber das ist nichts gegen das, was ich dir noch sagen muss. Du musst jetzt sehr stark sein, Liebling.«
»Waren etwa Karen und Herbert in den Unfall verwickelt?«
»Nein, die beiden nicht, aber Tina.«
»Und das erzählst du mir erst jetzt? In welcher Klinik liegt sie? Ich muss gleich hin.«
»Sie hat den Unfall nicht überlebt, Val.«
Valerie kamen augenblicklich die Tränen. Hinnerk nahm sie tröstend in den Arm.
»Was hatte sie auch nachts auf der scheiß Stadtautobahn zu suchen?«, fragte Valerie, was nur ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit war.
»Man fand eine Eintrittskarte zur „White Night Party“ im Amber Club bei ihr. Dort war sie wohl mit einer Freundin namens Margrit, die auch nicht überlebt hat.«
»So eine Tragödie. Waren die beiden angetrunken?«
»Vermutlich, aber das ist nicht die Unfallursache. Die Leiche, die man auf der Brücke entsorgt hat, ist den beiden buchstäblich auf den Kopf gefallen. Da würde wohl jede Wahrscheinlichkeitsrechnung versagen.«
»Die Arme. Da haucht sie ihr Leben aus an der Stelle, an der sie normaler Weise selbst tätig geworden wäre. Ich glaube, ich muss mich jetzt erst mal ausheulen und einen Schnaps trinken.«
Valerie lief aus der Küche und wäre um ein Haar mit ihrem Sohn Ben zusammengestoßen, der nach seinem Klinikaufenthalt wieder im Haus der Eltern wohnte.
»Was hat sie denn? Habt ihr wieder mal Krach?«, fragte Ben.
»Schlimmer. Ihre Freundin Tina ist tödlich verunglückt.«
»Die lesbische Pathologin, mit der Mama mal … Na, du weißt schon?«
»Die Pathologin, die eine Rechtsmedizinerin war. Das andere ist der Schnee von gestern.«
»Den Eindruck hatte ich nicht. Sie war immer mal wieder Thema bei euch.«
»Nicht wirklich. Tina war nur ziemlich nachtragend und hätte mich am liebsten auf den Mond geschossen.«
»Und Mama ist jetzt in Tränen aufgelöst, weil ihr doch noch was an Tina lag?«
»Nein, das dürfte nicht der Grund sein. Es ist immer hart, wenn man einen nahestehenden Menschen verliert. Unabhängig davon, ob man mit ihm das Bett geteilt hat. Du hast doch deiner Süßen auch bittere Tränen nachgeweint.«
»Der Süßen, die sich als ziemlich Saure herausgestellt hat, um es mit deinen Worten zu sagen. Wütend war ich, dass sie mich nicht einmal im Krankenhaus besucht hat. Dabei hätte ich den Überfall leicht nicht überleben können.«
Ben war in der Nähe des Hauptbahnhofs niedergeschlagen worden, und ihm war sein Moped gestohlen worden. Nach einem mittelschweren Schädelhirntrauma, das Gott sei Dank ohne Folgen blieb, war er in der Charité aufgewacht und konnte sich zunächst an nichts mehr erinnern. Die Rückkehr der Erinnerung hatte ihm unter anderem die Erkenntnis beschert, dass seine Freundin, die er hatte heiraten wollen, sich kurz zuvor von ihm getrennt, um einen anderen zu ehelichen, und angeblich sein Kind abgetrieben hatte. Valerie hatte die schwere Aufgabe gehabt, ihm die wahren Zusammenhänge mitzuteilen, nachdem sie während eines vertraulichen Gesprächs mit der Mutter dieser Frau erfuhr, dass alles eine große Lüge war. Es gab keinen neuen Bräutigam, und es hatte auch keinen Fötus gegeben. Die Folge einer lang zurückliegenden Totaloperation.
»Eine leicht weiche Birne hast du ja schon immer gehabt, mein Sohn«, feixte Hinnerk, »aber wir sind unendlich froh, dass keine Folgeschäden zurückgeblieben sind. Und dieser Lügnerin brauchst du nicht nachzuweinen. Die hat dich einfach nicht verdient.«
»Danke, aber so etwas Besonderes bin ich schließlich auch nicht.«
»Etwas mehr Selbstbewusstsein, wenn ich bitten darf! Du bist intelligent, siehst für einen jungen Mann recht hübsch aus – kein Wunder bei solchen Eltern – und bist nur gelegentlich eine gehörige Nervensäge. Was will man mehr?