Hanky und der Tausendschläfer. Marvin Roth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marvin Roth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236835
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das Ding den Wagen auf die Hauptstraße lenkte, bot sich ihm ein ungewöhnliches Bild. An einem Mann hingen zwei weitere, und zwei Frauen redeten auf die Gruppe ein. Der Mann in der Mitte strahlte die Präsenz aus. Am liebsten hätte sich das Ding sofort auf den Mann gestürzt, aber es waren zu viele Zeugen da, und das Ding musste vorsichtig sein.

      In diesem Moment, als das Wesen den Kampf beobachtete und der Pick-up fast zum Stehen kam, erstarrte der große Mann in der Mitte. Er drehte sich zu ihm um, ungeachtet der Tatsache, dass ein ausgewachsener Mann an seinem Hals hing, und blickte es direkt an. Es war ein kalter und bestimmender Blick, der das Wesen erschaudern ließ. So einen Blick hatte das Ding noch nie gesehen. In ihm lag eine Drohung, die ihm Todesangst einjagte. Das war dem Wesen noch nie passiert. Es hatte noch nie Angst gehabt, aber vor diesem da fürchtete es sich schrecklich. Das Ding trat auf das Gaspedal und verschwand mit quietschenden Reifen hinter der nächsten Kurve.

      Kapitel 7

      Es war tiefe Nacht, als Hanky erwachte. Er erwachte nicht nur, er erwachte doppelt. Etwas hatte einen Vorhang von seinem Geist weggerissen und damit den alten Hanky. Nichts war mehr wie vorher. Seine dummen, kindlichen Gedanken waren verschwunden und mit ihnen auch seine Panik.

      Seine Eltern erreichten erst gegen Abend die Praxis von Doktor Ness. Den Tag über waren sie unterwegs gewesen und hatten erst von Nachbarn gehört, wo ihr Sohn war. Hanky war auch noch zu benebelt gewesen von der Spritze, die er von der Schwester noch auf dem Gehweg vor der Praxis bekommen hatte. Doch das war keine große Kunst mehr gewesen, nachdem er völlig starr dagestanden und dem Bösen nachgeschaut hatte.

      Nun war er wach und dachte nach. Das erste Mal in seinem Leben dachte er richtig nach. Er wunderte sich nicht über seine Verwandlung, dazu war er zu beschäftigt. Er war damit beschäftigt, darüber nachzudenken, wie er am schnellsten aus dem Behandlungszimmer des Doktors verschwinden konnte. Anfangs kam er auf den Gedanken, einfach vernünftig mit dem Doktor zu sprechen. Davon ließ er aber schnell ab, denn wenn der Doktor seine Veränderung bemerkte, würde er herausfinden wollen, warum Hanky sich verändert hatte. Nein, so ging es nicht. Er musste weiter den dummen Hanky spielen, jedenfalls vorerst. Er würde noch eine Weile so daliegen und dann nach Doktor Ness rufen. Dann würde er vorgeben, auf die Toilette zu müssen, und sich völlig friedlich verhalten. Danach würde er das Jammern anfangen, dass er zu seiner Mami wolle. Ja, so würde es gehen. Er musste alle glauben machen, dass er wieder in Ordnung war. Wenn er erst mal hier raus war, würde er die Jagd nach dem Monster beginnen. Ja, er konnte es schaffen, dieses Wesen zu besiegen. Da war er sich ohne Zweifel sicher. Er war nun nicht mehr der dumme Hanky, nein, er war nun Hanky, der Jäger.

      Ziellos und mit aufsteigender Panik war das Ding geflohen. Es nahm seine Umwelt teilweise überhaupt nicht wahr. Irgendwann, es begann schon zu dämmern, und die Nacht war nicht mehr fern, hielt das Ding an einem kleinen Wald an.

      »Was ist geschehen

      Diese Frage jagte dem Wesen unaufhörlich durch den Kopf. Es dachte nach und wusste eigentlich nicht, was so anders war. Es konnte nicht begreifen, dass nach all den vielen Jahrhunderten plötzlich ein Gegner aufgetaucht war. Ein Gegner, der nicht übernommen werden konnte.

      Es hatte es in dem Moment versucht, als die beiden Männer an dem Mann mit der starken Präsenz hingen. Nein, eigentlich hatte das Wesen nur seine geistigen Fühler ausgestreckt, um zu überprüfen, wie schwer es sei, diesen Mann zu übernehmen. Es war so heftig zurückgeschleudert worden, das es sofort in Panik verfiel. Überhastet war das Ding dann geflohen. Nun saß es hier in Walt Kesslers Körper und wusste nicht, was es tun sollte.

      Auf der anderen Seite des Wäldchens lag auf einer kleinen Anhöhe direkt bei der Fernstraße eine Tankstelle mit dazugehörigem Lokal. Um diese Zeit, kurz vor Mitternacht, war nur noch wenig Betrieb, und Lora Malone, die heute Spätschicht hatte, räumte die letzten Tische ab. Drei Fernfahrer saßen noch an der Theke und tranken Kaffee. Sie warteten auf den Boss, den Fuhrunternehmer Mike Clark.

      Heute Abend wollte er die Tour mitfahren. Das machte er immer mal wieder, um zu sehen, ob seine Fahrer termingerecht liefern konnten. Dabei sprach er dann immer mit seinen Kunden und hörte sich deren Wünsche und manchmal auch deren Beschwerden an. Den Fahrern gefiel das nicht besonders, aber Mike verstand es, auf den langen Strecken, die sie zurücklegten, seine Leute immer wieder zu motivieren. Einige erzählten nach einer Weile von ihren Familien oder von ihren Sorgen und Nöten.

      Die Männer rutschten unruhig auf ihren Hockern herum. Es wollte kein richtiges Gespräch aufkommen. Heute war der Boss spät dran, was sehr ungewöhnlich für Mike Clark war.

      »Vielleicht hat es sich der Boss anders überlegt«, meinte Pete, der in der Mitte saß und meistens das Gespräch führte. Die beiden anderen knurrten nur vor sich hin und starrten in ihre Kaffeetassen. Lora schleppte gerade einige schmutzige Teller Richtung Küche, als sie das Geräusch eines vorfahrenden Wagens hörte.

      »Da kommt bestimmt euer Boss«, rief sie und verschwand durch die Schwingtür.

      Der Wagen bremste scharf auf dem Parkplatz, und man hörte den Kies unter den Reifen knirschen. Die Autotür klappte zu, und Schritte näherten sich dem Eingang. Die Männer drehten sich herum, doch nicht der erwartete Mike Clark betrat den Raum, sondern Sheriff Jack Weiser. Er schaute sich kurz um und ging dann direkt auf die Fernfahrer zu. Dabei nahm er seinen Hut ab und wischte sich mit einem Taschentuch die schweißnasse Stirn ab.

      »He Leute«, sagte er, »Ich muss mit euch reden. Ihr wartet bestimmt auf euren Boss. Er wird nicht kommen. Da ist ...«. Nun schaute er an die Decke, kniff leicht die Augen zusammen und räusperte sich, um dann fortzufahren. »Also, da ist was passiert. Ich weiß nicht, ob ihr Männer heute Nacht noch losfahren wollt oder ...«

      »Ja, was ist denn passiert, Sheriff? Nun rücken Sie doch endlich raus mit der Sprache. Was is‘n mit dem Boss?«, fuhr Pete dazwischen.

      Der Sheriff setzte seinen Hut wieder auf, rückte ihn zurecht, atmete noch einmal durch und sagte dann: »Euer Boss ist umgebracht worden. Wir fanden seine Leiche fünf Meilen von hier entfernt, vor etwa einer Stunde. Nachdem wir mit seinem Büro telefoniert hatten, wussten wir, dass er zu euch unterwegs war. Nebenbei, wie lange seid ihr denn schon hier?«

      »Seit über zwei Stunden«, klang es aus der Küche, und Lora betrat den Gastraum. »Mein Gott, Sheriff, das ist ja schrecklich«, rief sie. »Was um alles in der Welt ist denn geschehen?«

      Lichtfinger geisterten durch die Nacht. Ein Generator lief laut brummend an, und kurz darauf erhellten große Scheinwerfer die Szene. Polizisten schalteten ihre Taschenlampen aus. Die Straße war in beiden Richtungen mit rotweißen Barrikaden gesperrt. Davor standen weitere Polizisten, um ankommende Fahrzeuge zurückzuschicken.

      Vor einigen Minuten waren Spezialisten der Spurensuche aus New Bismark gekommen und liefen nun geschäftig in ihren weißen Overalls um den halb im Graben stehenden Wagen des Opfers herum. Auf einem Tritt des Krankenwagens saßen der Farmer Ben Johanson und seine Frau Julie. Das flackernde Licht der Polizeiwagen konnte nicht ihre blassen Gesichter verbergen. Ein Sanitäter sprach beruhigend auf die beiden ein, aber sie schauten mit starrem Blick nur auf den Waldrand.

       Kapitel 8

      Hanky lag in seinem eigenen Bett und starrte die Decke an. Der Doktor hatte ihn nach Hause gefahren und ihn zusammen mit seinen Eltern ins Bett gebracht. Alle waren sehr besorgt gewesen, und seine Mutter hatte noch lange an seinem Bett gesessen und seine Hand gestreichelt. Sie sah in Hanky immer noch den kleinen Jungen mit den großen Augen, der so in seinen Tagträumen versunken war, dass er immer abwesend wirkte. Sie hatten nie genug Geld gehabt, um den Jungen richtig untersuchen zu lassen. Er hatte sich in all den Jahren nicht verändert, außer dass er die Gestalt eines Mannes angenommen hatte. So richtig lachen konnte Hanky nur mit seinem Großvater, den er über alles liebte. So besuchte Hanky ihn fast jeden Tag und hörte staunend immer wieder den gleichen Geschichten zu, die sein Grandpa ihm erzählte.

      Nach einer Weile war seine Mutter aufgestanden und hatte leise den Stuhl zurück neben das Fenster an die Wand gestellt. Dann schlich sie aus dem