Im Bann der Traumfänger. Olaf Falley. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Olaf Falley
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844255201
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Felsen Zuflucht suchte. Die Lage war aussichtslos, die Frau verzweifelt. Da erschien wie aus dem Nichts ein riesiger grauer Wolf. Er sah die Frau an und sagte zu ihr:

      „Ich werde dir helfen, wenn du mir die Erziehung deines Kindes überlässt.“

      In ihrer Not hätte die Frau jeder Forderung zugestimmt. So kam es, dass sie auf den Handel einging.

      Der Wolf berührte den Felsen mit seiner Schnauze, worauf dieser sich auftat und die junge Frau aufnahm. Daraufhin nahm er den Säugling vorsichtig in sein Maul und rannte in den Wald.

      Man sagt, an manchen Tagen kann man ein Schluchzen im Inneren des Felsens vernehmen. Es ist die Frau, die zu spät gemerkt hat, dass sie überlistet wurde, denn natürlich kam der Wolf niemals zurück, um sie wieder aus dem Felsengefängnis zu befreien.

      Gerda fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die Menschen an einem solch verfluchten Ort eine Stadt gegründet hatten.

      Sie kam nur selten nach Wolfsstein.

      Zu schmerzhaft waren die Wunden, die ihr dort zugefügt worden waren. Das war lange her und von ihren Peinigern lebte niemand mehr. Trotzdem blieben Narben tief in ihrer Seele.

      „Wenn du denn unbedingt reiten möchtest, kann ich dich sowieso nicht davon abhalten.“

      Arnulf Stimme klang belegt.

      „Aber sei vorsichtig. Du weißt nicht, ob dieses Raubtier noch in der Nähe ist.“

      Fast hätte Gerda gefragt, welches Raubtier er meine. Dann fiel ihr wieder das traurige Ende von Erik, dem Tuchhändler ein.

      „Wenn es ein Tier ist, sollte es wohl eher vor mir Angst haben!“

      Es war ein lahmer Scherz, und Arnulf lächelte pflichtschuldig. Gerda gab ihrem Gatten noch einen Kuss, und verschwand nach draußen.

      Von den Kindern war nichts zu sehen, aber sie konnte Freyas Lachen hinter der Scheune hören. Das ließ wohl darauf schließen, dass sie sich wieder mit ihrem Bruder versöhnt hatte und ihre kleine Welt wieder in Ordnung war.

      Gerda schwang sich voll innerer Unruhe auf das Pferd und ritt los. Sie musste sich ein Bild von den Vorfällen machen. Irgendetwas war im Begriff, gewaltig aus dem Ruder zu laufen. Mit allen Sinnen spürte sie die herannahende Katastrophe, doch konnte sie nicht die Richtung bestimmen, aus der sie heraufzog.

      3.

      Aus der Ferne betrachtet sah Wolfsstein nicht gerade beeindruckend aus. Das erste, worauf das Auge fiel, war der Ozean, schmutziggraue Gischt auf blassblauen Wellen. Wasser soweit das Auge blicken konnte.

      Als nächstes blieb der Blick an einem riesigen Felsen hängen, dem Wolfsstein, an dessen Fuß sich die ersten Häuser duckten. Klein und zerbrechlich wirkten sie in der Nachbarschaft des Steingiganten.

      Aus der Nähe betrachtet änderte sich dieser Eindruck jedoch. Wolfsstein war eine Festung. Riesige Mauern zogen sich vom Meer zu dem Felsen, der eine ideale natürliche Barriere darstellte. Keine Armee würde diese Mauern so ohne weiteres überwinden. Die breiten Wehrgänge boten den Verteidigern sowohl Schutz, als auch einen ungehinderten Blick auf jeden Angreifer. Im Falle einer Belagerung wäre das Meer ein nahezu unerschöpflicher Nahrungslieferant. Die Wellenbrecher waren so angeordnet, dass Kapitäne, die die hiesigen Gewässer nicht kannten ihre Schiffe unmöglich unbeschadet hindurchmanövrieren konnten. In Friedenszeiten übernahmen Lotsen diese Aufgabe, im Falle eines Krieges standen Schiffe bereit, die in den schmalen Passagen zwischen den Steinwänden versenkt werden konnten.

      Der Platz zwischen den Mauern und dem Ozean war die Heimat für fünfzehntausend Menschen, eine unglaubliche Menge. Aber nur wenige der Einwohner waren in der Lage, diese Zahl zu begreifen und noch weniger konnten sie niederschreiben. Schreiben und lesen waren wenig verbreitete Fähigkeiten. Nur die Händler, die Offiziere und die wenigen Adligen waren damit vertraut. Unter den Arbeitern, den Bauern und den Matrosen gab es höchstens einen von hundert, der in der Lage war, gesprochene Worte in Schrift zu verwandeln und diese später auch wiederzugeben.

      Gerda näherte sich der Stadtmauer aus Norden kommend, vom Waldesrand. Die Wachposten musterten sie kritisch, sagten jedoch kein Wort und ließen sie anstandslos passieren.

      Seit ihrem letzten Besuch in Wolfsstein waren viele Jahre vergangen, fünf um genau zu sein. Und doch war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte.

      Gleich hinter dem Stadttor boten die ersten Händler ihre Waren an. Es waren vorwiegend Lebensmittel. Jeder Fremde, der Wolfsstein erreichte, war vorher mindestens fünf Tage unterwegs, ohne auf eine menschliche Behausung zu treffen. Was lag näher, als die Sinne der Reisenden mit dem Geruch von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot zu verwirren? Dass die Preise für die Lebensmittel hier nahezu doppelt so hoch waren, wie im Stadtzentrum konnten die Fremden nicht wissen. Es hatte einst einen pfiffigen Händler gegeben, der versucht hatte auf halber Strecke zwischen Wolfsstein und dem fünf Tagesreisen entfernten Wildbach eine Herberge zu eröffnen. Nachdem man seine grauenvoll entstellte Leiche in der Ruine seiner halbfertigen Gaststätte entdeckt hatte, wurde nie wieder ein ähnlicher Versuch unternommen.

      Gerda ritt an der Stadtmauer entlang in Richtung des Hafens. Der Weg durch das Zentrum der Stadt wäre zwar kürzer, er würde sie aber unweigerlich am Gefängnis vorbeiführen, einem Ort, der noch immer böse Erinnerungen an Folter und Qual in ihr wachrief. Ihr Ziel war das Armenviertel.

      Erik, der Tuchhändler hatte dort vor vielen Jahren ein Haus gekauft. Damals waren die Bewohner dieser Gegend größtenteils Seeleute. Viele von ihnen nahmen Eriks Waren mit auf ihre Reisen, verkauften sie mit Gewinn und kauften nach ihrer Rückkehr noch mehr seiner Stoffe. Manche brachten ihm auch fremdländische Artefakte mit, um sie gegen seine Waren einzutauschen. Das Geschäft lief hervorragend.

      Bis irgendwann die Schiffe ausblieben. Das übersteigerte Sicherheitsdenken der Wolfssteiner und ihre geradezu panische Angst vor einem Angriff vom Meer aus führte dazu, dass immer weniger Kapitäne bereit waren, das Risiko einzugehen, ihre Schiffe durch die Abwehranlagen an Wolfssteins Küste zu manövrieren.

      Das war auch nicht mehr notwendig, da das bis dahin eher beschauliche Städtchen Wildbach die Zeichen richtig gedeutet und den eigenen Hafen zu einem gigantischen Umschlagsplatz ausgebaut hatte. Seither lief Wildbach Wolfsstein den Rang einer Küstenhandelsstadt ab und das einst angesehene Seefahrerviertel wurde zum Umschlagplatz für Hehlergut und zum Aufenthaltsort für allerlei zwielichtiges Gesindel.

      So gesehen war das Ende, welches dem Tuchhändler beschieden war, nicht einmal so überraschend. Irritierend waren für Gerda allerdings die Umstände, die das Ableben Eriks begleiteten.

      Warum sollte jemand Weinfässer bei einem Tuchhändler stehlen, man brach ja auch nicht in ein Gasthaus ein, um die Bettlaken mitzunehmen!

      Und wer tötete die Einbrecher und gleichzeitig den Bestohlenen?

      Es war alles so verwirrend, dass eigentlich nur eine Erklärung übrig blieb: es gab keine Erklärung und alles war nur ein Zufall.

      Vorsichtig näherte sich Gerda dem Haus des Tuchhändlers. Sie hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, um sich den Tatort anschauen zu können, sollte man versuchen, sie daran zu hindern. Allerdings waren alle Pläne hinfällig, als sie sich dem Haus auf einen Steinwurf genähert hatte. Zum einen gab es niemanden, der versuchte, sie fernzuhalten; zum anderen brauchte sie nicht näher an das Gebäude, um zu wissen, was passiert war. Der Geruch war unverkennbar. Wie eine Woge schlugen die Erinnerungen über ihr zusammen. Die Erinnerungen an eine Zeit, als die Hierarchie der Welt noch anderen Gesetzmäßigkeiten unterworfen war.

       Es würde das Ende sein. Unwiderruflich. Entweder würde die Schwesternschaft untergehen, oder die Traumfänger würden dem Vergessen anheimfallen. Es würde heute geschehen. Unausweichlich.

       Zu sagen, es standen sich zwei Heere gegenüber, wäre übertrieben, betrachtet man die Zahlen der Krieger. Betrachtet man jedoch ihre Macht, muss man sagen, es standen sich zwei Welten gegenüber.

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