Rockmusik statt Seniorennachmittag. Rainer Hannas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Hannas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847665380
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      Auf dem Weg zum Silversurfer

      Erfreulicherweise haben ja die wenigsten Renten-anwärter ihre Gesundheit oder gar ihr Leben auf dem Altar der Berufskarriere geopfert. Geschürt durch aufreibenden Kleinkrieg mit dauerfordernden Kunden, ständig optimierungsorientierten Vorgesetzten oder Mitarbeitern mit völlig anderen Prioritäten in ihrer Lebenszielplanung als ihre Führungskräfte fordern ihren beruflichen Tribut. Und dann steht man eines schönen Tages am Ende dieses Arbeitslebens und ist plötzlich vor einer anderen, gewaltigen Aufgabe angelangt: der Neuorientierung durch vorgezogenen oder regulären Ruhestand. Nun wird man in unseren Tagen ja nicht mehr alt - man mutiert zum ‘Silversurfer’ oder wird zum Mitglied der ‚Generation 50Plus‘.

      Endlich Zeit für die Familie! Ach, du lieber Himmel! ‚Papa ante portas‘ lässt grüssen. Oder wenigstens für die Enkel. Wenn man schon das Aufwachsen der eigenen Kinder aufgrund von Dauerüberstunden wegen Bausparverpflichtungen fürs Eigenheim, Mercedes-Raten oder schlicht übersteigertem Berufsego überwiegend verpasst hat.

      Da gibt es dann Jungsenioren, die sich in diesen veränderten Zeiten in dubiose, enkelaltrige Jungblondinen-Abenteuer stürzen, während andere die Orchideen- oder Bienenzucht als neuen Lebenssinn entdecken. Und manche verfallen gar in eine bleierne Agonie, eine Art dumpfe Todessehnsucht.

      Summa sumarum - es gibt keinen Zweifel – der Lack scheint ab.

      Auch Rolli hat das Gröbste seines Arbeitslebens hinter sich. Oder in Zahlen und Fakten ausgedrückt: Rolli ist jetzt sechzig und gehört damit zu den Vorruheständlern. Eigentlich heisst Rolli ja Roland. Doch seit Menschengedenken nennen ihn Familie, Freunde und Bekannte einfach Rolli. Dabei weiss niemand so recht, ob er sich selbst dieses Kürzel verordnet oder ob es ihm jemand als Koseversion verliehen hat. Vielleicht schämt er sich ein bisschen seines vollen Namens Roland, den der berühmte kriegerische Namensvetter auf dem Bremer Marktplatz trägt: die über 700 Jahre alte steinerne Roland-Statue.

      Möglich wäre auch, dass das Kürzel ‚Rolli‘ mit seiner barocken Erscheinung zu tun hat. Denn immerhin verteilen sich stolze 110 Kilo auf eine vielleicht etwas zu geringe Körpergrösse von lediglich 1 Meter und achtundsiebzig. Seine daraus resultierende Art der Fortbewegung wird daher von manchen seiner Mitmenschen mehr als rollend, denn als gehend wahrgenommen.

      Doch egal ! Warum sich jetzt noch gross verbie-

      gen – Rolli ist und bleibt Rolli, mit Hingabe und aus Überzeugung. Denn schliesslich kann er trotz seiner fortgeschrittenen Jugend voller Freude und Selbstbewusstsein in die Zukunft blicken. Rollis Lebenselexier seiner Drittzähne-Zeit ist weder weiblich, jung und blond, noch ist er Phaleonopsis-Orchideenkult-Huldiger und auch kein Apistik-Jünger, also Anhänger der Bienenzucht. Ihn lähmt auch nicht der bleierne Druck einer Altersdepress-ion, die Geist und Knochen zermürbt. Seine Hin-gabe und Leidenschaft pendelt zwischen Dur und Moll – er liebt und lebt die Musik. Und das Musikmachen.

      Vor kurzem durchflutete ihn deswegen sogar eine gewaltige Portion Stolz, die andere vielleicht bei der Verleihung von Urkunden oder Orden empfinden.

      „Hallo, Ihr Hübschen!’, flötete Rolli im Vorbeigehen seiner 11-jährigen Grossnichte Anja und deren Freundin zu, die sich gerade abmühten, ein Einrad zu besteigen. Für ihn eines der letzten Sportgeräte-Mysterien, das er nie beherrscht hat.

      Und noch während Rolli um die Nachbarhausecke bog, hörte er Anja zu ihrer Freundin sagen: ‘Du das war der Onkel von meinem Papa. Und der spielt Rock’n’Roll !’

      „War das jetzt ein Kompliment oder eher die Beschreibung einer Verhaltensstörung?“, dachte Rolli kurz über Anjas Bemerkung nach. Zur Stabilisierung seines Ego entschied sich für Ersteres, also für das Kompliment. Denn wer spielt schon im Frühling aufkommender Gedächtnisschwäche oder der am Horizont drohenden Inkontinenzhöschen noch Rock’n’Roll-Musik in einer Band ?

      Warum deshalb also Schamröte entwickeln ?

      Auch Anjas Vater, Rollis Neffe Michael und dessen Frau war bewusst, dass dieser Onkel Rolli so ganz anders als andere Onkel war. Deshalb verliehen sie ihm anlässlich eines runden Geburtstages eine Art Würdentitel – nämlich den des ‘Fertigen Onkels’. Geschickt liess es dabei der Neffe Michael offen, welche Wortbedeutung von ‘fertig’ damit gemeint war: das ‘fertig’ im Sinne von ‘komplett, beendet, abgeschlossen’ oder das ‘fertig’, mit dem gelegent-lich ‘kaputt, erledigt, verrückt’ umschrieben wird. Wie kaum anders zu erwarten, nahm auch hier Rolli bei der Interpretation seines neuen Titels ‘Fertiger Onkel’ die erste, positive Version für sich in Anspruch. Und dieser Titel begleitet ihn im Fami-lienjargon noch heute.

      Rolli empfindet ohnehin den Jugendwahn unserer Zeit in erster Linie als eine Erscheinung der Werbewerte-Gesellschaft, wo man Alter in erster Linie über Gebissreiniger, Rheumasalben und Betreutes Wohnen definiert.

      Ganz anders als zum Beispiel in exotisch-orient-alischen Gesellschaften. Dort sieht man Alter meist in Verbindung mit Weisheit und Respekt. Rolli denkt dabei besonders gerne an seinen türkischen Freund Ismail, der ihm einst beim Anblick von Rollis ergrau-tem Bart das türkische Wort ‚Aksakal‘ erklärte. „Bei uns bedeutet ‚Aksakal’ etwa ‚Weissbart‘ und man meint damit einen ’ehrwürdigen, alten Mann‘. So nennt man im türkischen Sprachraum auch oft den Dorfältesten.’, klärte ihn Ismail auf. Beim Gedanken an den ‚Aksakal‘ sieht sich Rolli dann manchmal an einem sonnigen Plätzchen beim Teetrinken in einem westanatolischen Pfirsichhain sitzen, Wasserpfeife rauchen und zwischendurch liebevoll eine Baglama - die türkische Laute - mit den Fingern zupfen.

      Doch zurück in deutsche Lande mit einem Blick auf die 50Plus-Opas und –Omas, die sich auf und um die sechzig oder mehr Lebensjahre bewegen.

      Deren Beitrag zur Alterspyramide und die nicht zu leugnenden demoskopischen Fakten der Altersentwicklung unserer Gesellschaft haben ja inzwischen sogar viele von ansonsten visions-befreiten Politker entdeckt. Und nach Jahrzehnten der Jugendverherrlichung, vor allem durch die stets Zeitgeist-prägenden Jungdynamiker in den Werbeagenturen und die vermeintlichen Meinungsmacher bei Radio- und TV-Sendern - spricht man heute in diesen imageprägenden Kreisen eben von ‘Altersmix’, der ‘Generation 50plus’ oder von ‘Silversurfern’. Spät, aber immerhin, denn das als unbestechlich geltende Statistische Bundesamt glaubt zu wissen, dass in 50 Jahren jeder dritte Deutsche über 50 Jahre sein soll.

      Rolli amüsiert es, dass nach den Zeiten des Jugendwahns auch in den Unternehmen bei solchen Zahlen die Alarmglocken schrillen. Im Gleichklang mit namhaften Zeitungen heisst es da plötzlich, man wolle ‚Älteren Kunden gerecht werden‘ oder ‚dem Alter seinen angemessenen Platz in unserer Gesellschaft geben‘. Und die nach Umsatz und Euro gierende Karawane hechelt wie immer hinter ihrem Profit her.

      Schon wird ein 60-jähriger Konsument mit dem zweifelhaften Titel ‚Vier-Generationen-Käufer‘ bedacht. Will heissen, dass bei dessen Verbrau-cherverhalten sein Eigenkonsum, das seiner Eltern, seiner Kinder und seiner Enkel beim Einkaufsverhalten eine Rolle spielen. Und schon peilen die umsatzorientieren Verkäufer z.B. bei einem 60-jährigen Geburtstagsjubilar nicht nur dessen Enkel, Kinder und Eltern als Zielgruppe an, damit all diese Personen mit Geschenken den Konsum anheizen, sondern auch der Jubilar zu seiner Feier und natürlich auch anderen Festtagen ihre Geldbeutel öffnen.

      Schön, dass man eine solche neue Wertschätzung des Alters noch erleben darf – auch wenn sie in erster Linie geldgeilen Gehirnen entspringt.

      In einem derart weihevollen Werbebranchen-Wertschätzungsmoment fällt Rolli manchmal der Kinofilm ‚Network‘ aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein. In dessen Handlung erhält der langjährige Starmoderator einer Fernsehsendung seine vorgezogene Kündigung, weil er altersmässig nicht mehr in das Programmschema passt.

      In seiner letzten Sendung fordert dieser Moderator aus Verärgerung seine Zuschauer nochmals zu einer solidarischen Gemeinschaftsaktion zivilen Unge-horsams auf. Er verkündet vor laufenden Kameras: ‘Öffnet alle eure Fenster und ruft hinaus: Ihr könnt mich alle am A … lecken!’ Tatsächlich taten sich eine gewaltige Anzahl von Fenstern in dieser amerikanischen Stadt auf und es hallte ein