„Wer Essen will, muss töten können“, sagte sein Vater zu ihm. So einfach sind die Gesetze. Früher war es ein Huhn, das er töten musste. Heute treibt er die Gegner in einen finanziellen Ruin und übernimmt ihren Besitz. So einfach funktionieren die Gesetze für ihn. Nur seine Frau konnte er noch nie in eine Schublade stecken. Das gefällt ihm an ihr, ohne es je zuzugeben.
Ein Schubser an ihre Schulter. Dann noch einer. Sie dreht sich zu ihm. Ob er schon lange wach liege? Es ist Zeit, hier etwas zu erleben. Er will nicht all zu lange in diesem Afrika bleiben. Ein paar Dinge erledigen. Die Leute aus seinem Land hier treffen. Etwas Großes im Nationalpark schiessen. Er will zurück zu seiner Fabrik. Dem alten Bauern ja nicht genug Zeit geben, um etwas Dummes in der Firma anzustellen. Der soll endlich in Rente gehen und ja nicht mitreden.
„Seine Zeit ist vorbei!“ sagt sie wissend, worüber er nachdenkt. Sie hält seine Hand mit ihrer linken. Zieht seinen Kopf mit ihrer rechten an sich und küsst ihn. Er soll noch schlafen. Die Haushälterin macht gerade Frühstück. Hier laufen die Dinge langsamer als Zu Hause. Eines nach dem Anderen. Er knurrt kurz. Umarmt sie, so sanft er nur kann. Es fällt ihm schwer, das zu tun. Hart ist seine Hand. Versteift seine Körperhaltung. Ganz verloren ihn ihrer Sanftheit.
Eine Stunde später sitzt der Bauer mit Monika und den drei Kindern am Frühstückstisch.
„Verstehen sie uns?“ fragt Martin seine Frau, während er sich ein Brot mit Schwarzwälder Wurst belegt.
„Sie sind Kinder von hier. Sie kommen aus den Slums. Ihre Eltern haben sie verlassen oder sind tot. Es gibt Tausende von ihnen, alleine hier in dieser Stadt.“
„Sie sprechen kein Englisch!“ murmelt er, während er kaut.
„Du sprichst kaum Englisch und verkaufst hierher die meiste Ware aus unserer Firma. Lass sie einfach hier sein, so lange du hier bist.“
„Ich brauche ihre Sprache nicht zu sprechen. Es sollte allen klar sein, was ich will, wenn sie mich nur ansehen. Für alles andere sollten wir keine Zeit verschwenden. Wieso auch? Wenn ich will, kann ich ein Kind haben. Muss mir halt ne andere suchen, die kann.“
Es ist still am Tisch. Die Kinder verstehen nicht, worum es geht bei dem Gespräch, dennoch spüren sie dass es besser ist, ruhig zu sein. Einen Moment, der doch länger ist, als ein Augenblick. Die erste Konfrontation seit einer langen Zeit. Der erste Stich ihn ihrer Brust, seit sie das letzte Mal mit ihm über die Sache geredet hatte. Der Moment scheint ewig in ihrem Herzen. Bis er es bemerkt. Er will noch sagen, dass er es nicht so gemeint hatte. Doch es ist zu spät. Sie überspielt die Situation, denn sie kennt ihn. Sie meint, dass alle gemeinsam mit auf die Safari gehen. Das Treffen mit den Freunden aus der Heimat. Alle gemeinsam. Mit den Kindern. Ob es ihm passt oder nicht. Als ob seine Worte nie existiert hätten. Wie ein Schild, welches seinen verbal aggressiven Pfeil ablenkt und zu ihm zurück schiesst.
„Gut. So soll es sein. Sie sollen alle mit. Kann ja nicht schlimm sein das Ganze.“ Er versucht, hart zu bleiben. Wie bei allen Verhandlungen. Bei Monika fällt es ihm schwer. Sie ist die einzige Frau in seinem Leben. Die wichtigste Person. Neben ihr gibt es nur die Firma. Den Hof. Den Gewinn.
Kurz darauf fahren sie los. Über die Hauptstrasse hinaus, vorbei an den Papphäusern der Pappstadt in den Naturpark.
„Willst du nicht wissen, wie sie heissen, die drei?“
„Ruhe!“ Nur das Geräusch des alten Dieselmotors.
„Die kleine hinten links heisst Annisa die in der Mitte Dawa, die rechts Rachida. Sind das nicht schöne Namen Annisa, Dawa und Rachida.“ Der Bauer konzentriert sich auf die Strasse. Er tut so, als ob er sie nicht hören kann Doch sie bemerkt den leichten Ansatz eines Lächeln in seinem Gesicht. Die Strasse durch die Pappstadt ist holprig und nicht geteert. Vielleicht erfreut er sich, aber nur daran, den Kindern eine grosse Angst einzujagen. Annisa ist zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Auto. Sie sind zu Fuß vom Dorf in die Pappstadt gekommen. Jetzt fährt sie mit den weissen Menschen in einem grossen Auto durch die Pappstadt. Es ist der kürzeste Weg hinaus ins Reservat. Annisa bemerkt, wie sich der Mann, den die Frau Martin nennt, aufregt. Es muss wohl die Strasse und die Fahrt durch die Pappstadt sein, worüber sie reden. Annisa kennt die Papphütten, an denen sie vorbei fahren. Nur noch ein paar Meter. Jetzt müsste sie einbiegen, um ihre Hütte zu erreichen. Doch sie spürt kein Verlangen, dort noch einmal hinzugehen. Jetzt ist sie im Auto des weissen Mannes und der schönen Frau mit den blonden Haaren. Sie hat ein schönes Kleid bekommen. Die schönsten Schuhe, die sie je gesehen hat. Mit den anderen zwei Mädchen spielt sie gerne. Sie versteht Dawa und Rachida aber nicht. Die Mädchen sprechen eine andere Sprache. Es gibt viele Sprachen um sie herum. Eine spannender wie die andere. Alle will sie verstehen. Aber am Wichtigsten scheint ihr, die Sprache des weissen Mannes zu lernen. In ihrem jungen Alter begreift sie sehr schnell die Situation, in der sie sich jetzt befindet. Wieso sonst hätte die Frau sie aufgenommen? Die zwei waren keine Familie mit Kindern. Bei dem Mann spürt sie Abneigung, bei der Frau Wärme. Sie fühlt, das nicht alle drei bei ihnen bleiben können. Zu abweisend war der grosse Mann. Aber sie will nicht zurück in diese Pappstadt, in den Dreck. Dort herrscht Gewalt. Angst. Mädchen wie Annisa haben keine Zukunft in der Pappstadt. Die jungen Männer haben sie schlecht behandelt. Sie behandeln alle Frauen wie Dreck. Sie schlagen sie windelweich, bis sie mit in ihre Papphütte gehen oder schlimmere Sachen machen müssen. Jetzt spürt sie eine Sicherheit, die seit den Tagen im Afrikanischen Dorf nicht mehr vorhanden war.
„Vater war ein guter Mensch. Er konnte uns aber nicht beschützen. Er dachte, er tut es. Aber er sah nicht, was wirklich geschehen war“, dachte Annisa.
Es ist nur ein Bruchteil einer Sekunde. Die letzte Gasse der Pappstadt. Aber sie erkennt ihn, sie sieht ihren Bruder. In einer Gruppe junger Männer. Elli ist leicht zu erkennen. Annisas Bruder ist der Kleinste von allen. Eine hohe Stirn und nach hinten gekämmte, glatte Haare. Eine kurze Sekunde hat gereicht, um zu wissen, dass der Bruder nicht mehr beim Vater lebt. Die Männer, die bei ihm sind, sind die, vor denen sie sich am meisten gefürchtet hatte in der Pappstadt. Wer bei ihnen ist, lebt mit ihnen oder ist tot. Wechselte Elli, der Bruder, die Seite? Es musste so sein, denn er lebt. Annisa verspürte Angst um Elli.
Sie verlassen die Pappstadt. Vor ihnen öffnet sich eine grosse, unendlich weit erscheinende Ebene. Martin Boeremann fährt mit seiner Frau und den drei Mädchen auf der Strasse, in Richtung ihrer Zukunft.
Sie sitzen alle zusammen an einem grossen Tisch. Die Tischdecke ist weiss, das Besteck reines Silber. Bedient werden sie von afrikanischen Angestellten des Ressortclub German Lions. Annisa sitzt neben der Frau. Die Frau neben dem Bauern. Die anderen zwei Mädchen neben Annisa.
„Wir sollten expandieren. Es ist wichtig! Lass uns ausbauen. Ja? Nein? Mehr? Weniger? Wie viel? Dabei? Alle dabei? Dann lasst uns Pläne schmieden! Alles kann funktionieren, wenn wir zusammen halten.“
„Sie sind lieb, die Kinder, nicht?“ fragt Monika Boeremann. Alle Frauen am Tisch nicken.
„Ja. Wir wollen sie mit nach Europa nehmen.“
„Wollen wir?“ fragt der Bauer verärgert, bevor er einen großen Bissen von seinem Schweinshaxen nimmt. Monika sieht ihn an. Kein Lächeln entweicht ihrem Gesicht. Alle am Tisch sind ruhig.
„Ich will mit!“ Just fallen alle blicke auf Annisa.
„Sie kann ja unsere Sprache“, sagt einer der Männer.
„Annisa lernt schnell“, antwortet Monika.
„Ich will mit“, wiederholt sich Annisa.
„Ist sie nicht süss?“ Monika ist entzückt vom Talent Annisas und fühlt sich bestärkt in ihrem Vorhaben.
„Wir reden später darüber“, meint der Bauer. Wir reden später darüber.