Noch eine Woche bis zu meinem Geburtstag. Die Vorbereitungen sind so gut wie abgeschlossen und wenn Mutter schläft, stehe ich vor meinem Schrank und freue mich: Über die vielen neuen Sachen und über mein Spiegelbild. Langsam sehe ich wieder wie ein Mensch aus, nicht wie eine leblose, graue Hülle. Bald wird man mich wieder ansehen, sehr bald. Und zwar anerkennend. Ich kann es kaum erwarten.
Mein Geburtstag. Mutter schenkt mir einen wunderschönen Brillantring, der bereits ihrer Großmutter gehörte. Ich habe ihn noch nie an ihr gesehen.
Artig bedanke ich mich und probiere den Ring an. Er passt. Gerührt küsse ich die pergamentartige Haut von Mutters Stirn und nehme langsam eines der Kissen, die auf ihrem Bett liegen.
Es dauert nicht lange. Sie ist schwach, alt und zart. Ich dagegen bin gesund, deutlich jünger und obendrein fest entschlossen. Als sie sich nicht mehr rührt, wähle ich die Nummer ihres Hausarztes. Er kommt sofort und stellt ohne zu zögern den Totenschein aus. Wie ich gehofft hatte ist er nicht überrascht, sondern kondoliert mir nur betroffen.
Dann kümmert er sich darum, dass alles seinen Gang geht.
Die Kirche ist fast leer. Ich trage ein neues schwarzes Kleid und fühle mich leicht und befreit. Ja, meine Mutter hat mir das Leben geschenkt. Doch sie hat es mir auch wieder ausgesaugt. Bis auf einen kläglichen Rest.
Eine Woche nach meinem Geburtstag besteige ich das riesige Schiff, auf dem ich per Internet eine Kabine gebucht habe. Ich schenke mir zu meinem Fünfzigsten die Möglichkeit, mir die Welt anzusehen. Bisher bestand sie nur aus unserer Wohnung und deren näherer Umgebung.
Beim Abendessen trage ich ein neues, farbenfrohes Kleid. Ich sitze an einem Tisch mit einem älteren Ehepaar und einem allein reisenden, sympathischen Herrn.
Ich gefalle ihm. Er lächelt mir zu, macht mir ein Kompliment und hebt sein Glas in meine Richtung. Ich stoße mit ihm an. Der Ring funkelt an meiner Hand.
Auf ein schönes, neues Leben, denke ich und genieße den köstlichen fruchtigen Aperitif, der meine Kehle hinunterläuft.
Plötzlich kann ich nicht mehr atmen, bekomme keine Luft. Ich spüre, dass mich jemand hinlegt, höre aufgeregte Stimmen und das Wort ‚Kiwi‘.
Meine Allergie! denke ich noch. Diese verfluchte Allergie macht mir meine Träume kaputt.
Dann denke ich nichts mehr.
ENDE
Einfach kann doch jeder
Herbert seufzte. „Nu mach schon, Inge! Was tüdelst du denn so lange rum? Wir sind spät dran!“
Inge schlüpfte in ihre bequemen Segelschuhe und schnappte sich ihre Handtasche.
„Hetz mich nicht, ich bin ja schon fertig.“
Endlich fiel die Haustür hinter ihnen ins Schloss.
Auf dem Weg zum Flugplatz fing sie an, ihrem Ärger über den geplanten Ausflug Luft zu machen.
„So eine Schnapsidee! Zu nachtschlafender Zeit müssen wir uns Flensburg von oben angucken. Wie kam Jochen bloß auf diesen tumpigen Gedanken?“
Herbert schaltete höher. „Ich hab ihm mal erzählt, dass ich das noch nie gemacht hab. Er wollte mir eine Freude machen.“
„Und Barbara und ich müssen auch noch mit! Dabei leide ich doch unter Höhenangst.“
„Du hast keine Höhenangst.“
„Hab ich wohl! Als wir auf dem Eiffelturm waren, ist mir ganz kodderig geworden.“
„Was musstest du auch vorher zwei Crepès essen? Da wär ja nu wirklich jedem schlecht geworden.“
Inge schwieg beleidigt.
Barbara strahlte. „Ich freue mich schon so! Das wird bestimmt toll.“
„Ja, sicher.“
Jochen war abgelenkt. Er ärgerte sich über den angeborenen oder anerzogenen deutschen Gehorsam, der ihn dazu brachte, an der roten Ampel stehen zu bleiben, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war. Wer war auch schon an einem Samstagmorgen um halb fünf unterwegs?
Sollte er vielleicht doch …
Die Ampel sprang auf gelb und entließ ihn damit aus seinem Gewissenskonflikt.
Kurz darauf erreichten sie den Flugplatz Schäferhaus.
„Sie sind noch nicht da“, stellte Barbara beim Aussteigen fest.
„Da kommen sie schon.“ Jochen schloss den Wagen ab und winkte den Freunden zu.
Kurz darauf umrundeten sie zu viert das Flughafengebäude und erblickten auf der Wiese den noch ziemlich schlaffen Heißluftballon, mit dem sie sich in die Höhe begeben wollten.
Ein paar Männer waren mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der Älteste von ihnen, ein Hüne mit breitem Kreuz und wettergegerbtem Gesicht, kam ihnen entgegen. Auf dem grauen Haar trug er eine Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Mütze.
„Moin, ich bin Fiete.“
Er streckte eine schwielige Pranke aus und ließ als erstes Inges zarte Finger darin verschwinden. Sie lächelte gequält. Fiete hatte einen recht kräftigen Händedruck. Auch Barbara zuckte zusammen, als er sie begrüßte.
„Ich hoff ma, da is keen Drönbüdel und keene Bangbüx unter euch.“
Alle vier schüttelten den Kopf.
„Tscha, denn kann dat glicks losgehen. Man gut, wir ham kein Schietwetter. Die Jungs richten das gute Stück noch auf. Das is ne figgeliensche Sache. Ihr könnt schon ma reinkrabbeln.“
„Das hat er anscheinend wörtlich gemeint“, flüsterte Inge ihrem Mann zu. „Ich sehe gar keine Tür.“
„Da steht ein Hocker“, grinste Herbert. „Na, denn man los.“
Inge schnappte nach Luft. „Das ist doch wohl ein Scherz!“
Es war keiner. Und obendrein hielt Jochen ihre ungeschickten Kletterversuche mit seiner Videokamera fest.
In Inge brodelte es wie in einem heißen Fonduetopf.
Vom Korb aus beobachteten sie, wie sich der bunt gestreifte, dünne Stoff zu wölben begann. Erstaunlich behände gesellte sich Fiete zu ihnen.
„Na, denn woll’n wir mal. So in ein, zwei Stunden landen wir wieder. Wo genau, entscheiden wir spontan. Mein Kollege fährt uns mit‘m Auto hinterher und sammelt euch denn ein.“
Fiete zwinkerte Inge zu. „Zum Schluss wird jeder getauft und kriegt ne Urkunde und einen schicken Ballonfahrernamen. Ich heiße übrigens Luftgraf Fiete von der Förde, Herrscher über den Wolken. Na, is dat wat?“
Fiete betätigte den Brenner, woraufhin eine Flamme die Luft im Ballon weiter erwärmte. Inge hielt sich die Ohren zu und Herbert warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Das ist so laut!“, rief sie entschuldigend.
Als sich der Korbboden vom Rasen löste, quiekte Barbara vergnügt und Inges Kehle entschlüpfte ein leiser Schreckensschrei.
Fiete schloss das Ventil, der Lärm verstummte abrupt und langsam stiegen sie in den blauen Himmel hinauf. Barbara, Jochen und Herbert sahen nach unten. Nur Inge traute sich nicht so recht.
Fiete trat zu ihr. „Ganz ruhig, mien