Mit der Zeit wurde ich Oberministrant, von meinem Charakter her war ich jedoch keine Machtfigur, im Gegensatz zu meinen Vorgängern. Der Zeit wegen – die 68-Jahre bereiteten sich vor – wurde mein Amt ohnehin nicht mehr als Machtposition betrachtet.
Meine Beziehung zu Gott wurde vertieft durch die Weiterbildung als Ministrant. Erste intime und friedliche Momente mit Jesus hatte ich bei den damals üblichen Danksagungen nach der Messe. Aber zu einer freundschaftlichen, ganzheitlichen Beziehung zu Jesus wurde ich nicht geleitet. Gott war allmächtig und es ging darum, auf dem rechten Weg zu bleiben, indem man sich vor schwerer Sünde hütete.
— Sozialisation
Der eigentliche Beginn meiner Sozialisation fand in der katholischen Jugendbewegung jener Zeit statt. Durch Ferienlager lernte ich, in Gemeinschaft zu leben, mit anderen zu wandern und zu spielen und gemeinsam um ein Lagerfeuer zu sitzen. Ich wurde zum Leiter einer Gruppe ausgebildet. In der Jugendbewegung wurde mir die Gruppe der Ältesten anvertraut. Mit etwa 17 Jahren fing ich also an, mich um 14-jährige Jugendliche zu kümmern. Meine anfängliche Ungeschicklichkeit war eher mangelndes Selbstvertrauen. Das änderte sich, als es mir als einem der ersten Leiter gelang, mit meiner Gruppe eine Seilbrücke zu bauen. Als Orientierungsläufer war ich ganz passabel, Geräteturnen aber war mir ein Schreck. Durch die Jugendbewegung fand ich jene zwei oder drei Freunde, die damals für mich entscheidend waren. Wichtig war ein Lager, das mich ins Bergsteigen und Klettern einführte und während dem ich meinen höchsten Berg bestieg. Leichteres Klettern und mittleres Bergsteigen haben mich in der Folge immer angezogen.
Während der Sommerferien arbeitete ich einmal an einem Fliessband. Ich nahm mir vor, während der Arbeit, die mich geistig nicht forderte, in Gedanken das Lager für meine Gruppe vorzubereiten. Das war aber nicht möglich, sobald ich etwas überlegte, liefen die automatisierten Bewegungen falsch. Dies wiederum führte zu Protesten der Frauen, deren Lohn von der Geschwindigkeit des Bandes abhing. Und am Abend war ich trotzdem ausgelaugt und konnte weder ein Buch lesen noch kreativ denken. So habe ich begriffen, dass es Arbeiten gibt, die dem Menschen die Würde rauben und es für die Frauen am Band nicht viel anderes gab als Schlager, Fernsehen und Sex.
— Idee der Mission
In der fünften oder sechsten Klasse der Grundschule besuchte ich eine Wanderausstellung über die katholische Mission. Unter andern Gegenständen war der Priesterrock eines Missionars ausgestellt, mit einem Schussloch auf der Höhe des Herzens. Da fiel mir einfach ein, dass ich ihn ersetzen könnte. Das war der Anfang der Idee, mein Leben für die Mission einzusetzen, aber mein Vater fand, es genüge eigentlich, einen Sohn Gott geschenkt zu haben. So traten ein Kamerad und ich nach der Sekundarschule – als Erste unseres Dorfes – in eine staatliche Mittelschule mathematischer Richtung ein; sie war politisch eher liberal und protestantisch ausgerichtet. Mein Vater und meine Schwester hofften, dass ich dadurch genügend Abstand von meinen religiösen Ideen bekam.
Jeden Morgen benutzten wir einen Arbeiterzug, was uns trotz schwatzender Arbeiterinnen erlaubte, uns während der 45 Minuten auf die Schule vorzubereiten. Auf der abendlichen Rückfahrt spielten wir eher Schach oder Karten.
Das Mittagessen nahmen wir in der Kantine oder als Picknick in der Schule ein. Während meines ersten Jahres setzte sich ein sehr autoritärer Mathematiker während der Mittagspause zu mir. Er erklärte mir einen mathematischen Sachverhalt, den ich gerade zu verstehen suchte, auf eine so einleuchtende, nachvollziehbare Weise, dass ich in der Folge keine Angst mehr vor Mathematik hatte und mit der Höchstnote abschloss. So erfuhr ich ganz konkret, wie durch eine einmalige nachvollziehbare Argumentation ganze Gebiete erschlossen werden können.
Dass der betreffende Lehrer homosexuell war, nahm ich damals nicht wahr. Der Kamerad wurde später Doktor der Mathematik und machte Karriere in der europäischen Raumfahrt.
Was meine Beziehungen „zu den Frauen“ betrifft, hatte ich in der dritten oder vierten Grundschulklasse Einschlafphantasien der Art, dass ich mich als reichen Mann sah, mit entsprechenden Beförderungsmitteln, in Begleitung eines schönen Mädchens meiner Klasse.
1960 feierten wir Silvester in der Familie einer Tante. Es ist hinzuzufügen, dass die Familien mütterlicherseits einen ausnehmend guten Zusammenhalt hatten. Um drei Uhr früh des 1. Januars machten sich eine Cousine und ich auf den Weg zu einem 700 m höheren, kleinen Gipfel, der Weg war schneebedeckt. Unterwegs war ich versucht, meine Cousine zu umarmen, „beherrschte“ mich aber, da ich um acht Uhr als Oberministrant im Hauptamt fungieren musste.
Ein anderes Erlebnis hatte ich während eines Lagers der Jugendbewegung. Wir hatten eine hübsche Köchin, und jeden Abend sassen die Führer noch etwas zusammen. Ich war sehr versucht, mit der Köchin zu sprechen, aber der Scharführer schickte uns zu Bett!
Eine Bilanz meines Lebens bis zu diesem Zeitpunkt könnte etwa so aussehen: Sicher war es negativ, dass ich in den ersten zwanzig Jahren zu sehr auf meine Mutter fixiert war. Das aber ist eine nachträgliche Beurteilung. Ich war ein Papst-Fan und die Kirche war für mich gewissermassen das Zuhause. In der Beziehung zu Gott blieb ich Skrupulant. Positiv war, dass ich viel gelesen hatte und bei den Ministranten, in der Jugendbewegung, in der Mittelschule sowie beim Wandern und Bergsteigen gute Erfahrungen gemacht hatte. Und vor allem war positiv, dass ich wenige aber gute Freunde fand, und dadurch zu einem kleinen Beziehungsnetz kam, in dem ich mich sehr wohl fühlte.
In Liebe Dein L. Theodor
1.2. der Eintritt in einen Orden
Liebe Carole,
Bei der mündlichen Prüfung in Darstellender Geometrie, im Rahmen der Reifeprüfung mathematischer Richtung, fragte mich der Experte, was ich so zu studieren gedenke. Da ich nicht wusste, ob sich der Uni-Professor etwas unter einem Noviziat vorstellen konnte, antwortete ich, dass ich Theologie studieren würde. „Das ist aber schade. Sie sollten Mathematik studieren“, meinte er. Dass er prophetisch redete, konnte er nicht wissen. Damals stand für mich erst einmal fest, dass ich ins Noviziat eintreten würde. Der Provinzial hatte mir vorgeschlagen, dass ich nach dem Noviziat zwei Jahre Englisch studieren sollte. Anschliessend würde ich, gemäss meinem Wunsch, vorerst für zwei Jahre, in die Mission an eine Mittelschule gesandt werden und sodann das Priesterseminar beginnen. Die Aussicht auf ein Englischstudium begeisterte mich gar nicht, schon in der Mittelschule hatte ich nicht viel Freude an Sprachen. Aber ich wollte mich einfach „Gott“ überlassen und keinen Wunsch anbringen, ausser jenem, als Priester in die Mission zu gehen.
Nach der Reifeprüfung machte ich mit meiner Schwester, meinem nächstälteren Bruder und seiner Familie eine wunderschöne Wanderung durch die Dolomiten. Die Berge und der Grappa in den Hütten, eine gute Erinnerung!
Am 30. Oktober 1962 war es soweit, ich machte mich auf den Weg ins Noviziat. Meine Schwester begleitete mich bis zum Zug in der grossen Stadt, es war das erste Mal, dass ich allein eine lange Reise ins Ausland unternahm. Als Reiselektüre kaufte ich mir eine satirische Wochenzeitschrift und dachte, damit meinen letzten „weltlichen“ Lesestoff in den Händen zu halten. Von jenem Tag an sollte es für mich nur noch Gott geben! Es wurde Nacht, als der Zug immer weiter in die Tiefe des fremden Landes fuhr. Wenn ich aus dem Fenster schaute, war meist alles schwarz. Eine so karge öffentliche Beleuchtung hatte ich nicht erwartet. Mein Mut sank zusehends und meine Lektüre beschäftigte mich ohnehin nicht lange. Einen Aufsteller erlebte ich, als mir ein netter junger Ordensmann in der grossen fremden Stadt beim Umsteigen half. Wenig später sah ich in die Nacht hinaus, um aus den Linien am Horizont eventuelle Berge zu erahnen. Was natürlich bedeutet, dass Geographie nicht meine Stärke war! An meiner Endstation wurde ich vom Novizenmeister abgeholt, später in ein Zimmer eines grossen dunklen Gebäudes geleitet mit dem Entgegenkommen, dass ich am folgenden Tag ausschlafen könne. Geschlafen habe ich nicht gut.
Anderntags traf ich auf sechs Mitnovizen, zwei aus meiner Heimat und vier aus anderen Ländern. Sie hatten das Noviziat bereits zwei Monate vor mir begonnen. Der Novizenmeister gebot einem Landsmann, mir am Nachmittag die Umgebung zu zeigen. Es war frustrierend. Die Umgebung bestand aus vielen niedrigen Hügeln, und ich hatte auf Berge