Gerade in der Gegenüberstellung dieser beiden Autoren wird deutlich, was eine noch relativ theoriearme Erziehungsgeschichte von den Sozialwissenschaften lernen und übernehmen kann. Im Bereich der Psychologie sind es vor allem die Psychoanalyse und die neuere historisch Psychologie, die für uns von Interesse sein können. Zu diskutieren wären hier vor allem der Beitrag psychoanalytischer Theorien für die biographische Forschung, die einschlägigen Untersuchungen zum Sozialcharakter durch die analytische Sozialpsychologie sowie die historischen Studien zur Eltern-Kind-Beziehung von Hunt in Anlehnung an Ericson aber auch Ansätze einer psychogenetischen Entwicklungstheorie etwa bei van Berg und Lloyd de Mause.
Ergänzt werden müssen diese Betrachtungen allerdings durch kritische Auseinandersetzungen mit der Zivilisationstheorie wie sie etwa bei von Trotha, Homans, Blinkert, Baumann und vor allem Lasch vorgetragen werden.1 Diskutiert wird hier u. a. das Konzept der Selbstkontrolle im Sinne des Freud’schen Über-Ich oder der Elias’schen Selbstzwangapparatur. Lasch beispielsweise ist der Auffassung, dass in modernen Gesellschaften die Stärkung der Ich-Kontrolle im Vordergrund stehe und nicht die Entwicklung eines Über-Ich, dem vielfach ein gewissen Misstrauen entgegen gebracht wird.
Die einseitig psychologische Sicht erziehungsgeschichtlicher Phänomene verlangt aber nahezu zwangsläufig nach einer Ergänzung durch die Soziologie. Für unsere Zwecke, nämlich eine Erklärung für Veränderungen in den Verhaltensstandards im Erziehungsbereich zu finden, sind auch die strukturfunktionalistische Ansätze in der Tradition um Parsons von Interesse. Die Beschränkung dieser Ansätze liegt jedoch u. a. in deren wiederum ahistorischer Betrachtungsweise. Sie wird aufgebrochen durch die historisch arbeitende Soziologie, die ihren neueren Ausdruck in den sog. Modernitätstheorien findet. Zu diskutieren wären hier etwa Ansätze bei Eisenstadt, Bendix, Smelser oder Lerner2.
Einen dritten Zugang bietet die Wissenssoziologie, denn sie offeriert so etwas wie eine Synthese von soziologischen und psychologischen Wissensbeständen über Erziehung und integriert beide in einen entwicklungstheoretischen Rahmen. Die Geschichte der Erziehung erscheint hier als ein Prozess zunehmender Rationalisierung im Verständnis von Erziehung und im Verständnis des Kindes. Unklar bleibt freilich auch weiterhin, warum es zu einem Wandel etwa der Eltern-Kind-Beziehung und der daraus resultierenden Veränderungen von Verhaltensstandarden kommen konnte.
Eine scheinbare Lösung des Problems bietet wiederum, zumindest auf den ersten Blick, und damit kommen wir zum Anfang unserer Übersicht zurück, der Entwurf einer Theorie der Zivilisation bei Norbert Elias. Den Ansatz von Elias wollen wir nun im Folgenden kurz skizzieren.
Norbert Elias unternahm, wie schon angedeutet, den Versuch „die kleine Geschichte des Individuums“ mit der „großen Geschichte der Gesellschaft“ zu verschmelzen, es ist der Versuch nachzuzeichnen, wie bei der Herausbildung der abendländischen Zivilisation Psychogenese und Soziogenese einen unauflöslichen Zusammenhang bilden.
Ausgangspunkt für seine Analyse des europäischen Zivilisationsprozesses war dabei die Entstehung von stabilen Zentralorganen, festen Monopolinstituten der körperlichen Gewalttat, deren Formierung Auftakt bildet für den Übergang regionaler Feudalordnungen zu zentralisierten Herrschaftsformen und letztlich zur Staatenbildung. Die stärkere Funktionsteilung in den Gesellschaften mit Gewaltmonopol, für die zunächst der Fürstenhof oder der Königshof als Beispiel dienen kann, führt zu einer höheren Abhängigkeit der Menschen voneinander. Auch macht der Schutz vor fremder Gewalt, den man nun weitgehend genießt, es notwendig, sich selbst stärker zu disziplinieren. Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums, Ablösung des Handelns vom Augenblick, sind die Folgen. Der menschliche Seelenhaushalt wird im Sinne einer kontinuierlichen Regelung seines Trieblebens geformt. Zwischenmenschliche Fremdzwänge verschwinden zwar nicht, doch treten Selbstzwänge mehr und mehr an ihre Stelle. Der Herausbildung politisch stabiler Zentralorgane entspricht eine zunehmende Verfestigung der psychischen Selbstzwangapparatur. Soziale und psychische Wandlungsprozesse verbinden sich auf diese Weise zu einem Geflecht, das den Geschichtsverlauf strukturiert.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten seines Denkens, dass seine Theorie der Zivilisation nicht nur eine historische Entwicklung beschreibt und zu erklären versucht, sondern die Herausbildung der Theorie selbst als Entwicklungsprozess darstellt, der sich für den Leser so anschaulich wie möglich vollzieht. Die Wandlungen in der Einstellung zu natürlichen Bedürfnissen etwa, die im ersten Band zum Prozess der Zivilisation beschreiben werden, und die sich u. a. mit dem Schnäuzen, Spucken, Verhalten im Schlafraum, den Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie den Wandlungen der Angriffslust beschäftigen, bilden das Musterbeispiel einer anschauungsgesättigten Theoriebildung.
Es ist das Verdienst von Norbert Elias, dass er auch alltagsweltliche Details als Anzeichen eines kontinuierlichen Wandlungsprozesses betrachtet, der schließlich zur Herausbildung der abendländischen Zivilisation führte. Dieser Zivilisationsprozess zeigt sich im Wandel der Tischsitten, in Veränderungen des Steuerverhaltens von innerpsychischen Abläufen ebenso wie in der Formation des Nationalstaates.
Und weil er so allumfassend und durchdringend ist, kann sich eine Theorie, die diesen langfristigen und ungeplanten, aber strukturierten und gerichteten Prozess beschreibt, eine Hierarchisierung ihrer möglichen Gegenstandsbereiche gar nicht gestatten. Nicht jeder Gegenstand ist für die Theorie der Zivilisation gleich wichtig, unwichtig bleibt für sie keiner. Dabei hat Elias schon früh angedeutet, dass Erweiterungen und Präzisierungen der Zivilisationstheorie nach zumindest zwei Richtungen erfolgen könnten: als Erforschung des Sozialisationsprozesses auf der Mikro-, als Analyse der zunehmenden Verflechtung der Nationalstaaten auf der Makroebene.
Hier finden sich bei Elias Forschungsperspektiven vorgezeichnet, die erst heute in Geschichte, Soziologie und auch in der Pädagogik deutlichere Konturen gewinnen wie etwa im Versuch die Historizität des Phänomens Kindheit nachzuweisen und deren Geschichte mit der Entwicklung der Zeitmessinstrumente und den Wandlungen des Zeitbewusstseins zu verknüpfen. Mit der Hinwendung zur Sozialgeschichte ist für die historisch arbeitende Pädagogik damit auch und in erster Linie der zivilisationstheoretische Ansatz von Norbert Elias interessant geworden.
Für uns bleibt nun allerdings die Frage, ob der von Elias beschriebene und gedeutete Zivilisationsprozess in seiner ursprünglichen Form Wandlungen von Verhaltensstandards in modernen Gegenwartsgesellschaften hinreichend erklären kann. Wir haben in Deutschland ein hohes Maß an Staatlichkeit erreicht, der Prozess der Staatenbildung kann also nicht länger als Erklärungsmuster herhalten. Die ursprüngliche Fassung der Zivilisationstheorie muss für unsere Betrachtung also modifiziert werden. Das bedingt vielleicht auch ein anderes Verständnis von „Zivilisation“. Worin zeigt sich heute Zivilisiertheit und welchen Bedeutungswandel hat der Begriff „zivilisiert“ gemacht. Darauf wird in der Interpretation der Arbeit näher einzugehen sein. An dieser Stelle sei aber schon darauf hingewiesen, dass Elias und seine Schüler, unter ihnen vor allem Cas Wouters, die Zivilisationstheorie weiterentwickelt und erweitert haben. Die ursprüngliche Fassung der Theorie wurde dabei im Wesentlichen in zwei Punkten den gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Zum einen steht der Prozess der Staatenbildung nicht mehr im Zentrum der Theorie. Zum anderen wird der Begriff „Zivilisation“ nun in einem modifizierten Sinne verstanden. Konstitutiv für „Zivilisiertheit“ ist nunmehr ein friedliches und gewaltfreies Zusammenleben der Menschen und die Ausbreitung einer stabilen und verlässlichen Selbstzwangapparatur. Mit letzterem wird ein Haupttheorem der Zivilisationstheorie weiterentwickelt.
Elias und seinen Schülern ist natürlich nicht verborgen geblieben, dass sich die Welt seit dem Absolutismus stark verändert hat. In Wellenbewegungen haben sich die Standards des Verhaltens geändert. Starre Formen haben sich gelockert, Informalisierungsprozesse wurden aber auch wieder in Prozesse der Formalisierung zurückgeführt. Für unseren Untersuchungszeitraum, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart,