Dann hörte sie ein Wimmern und Schreien, allerdings aus scheinbar weiter Ferne. Je tiefer sie jedoch die Treppe hinab stiegen, um so lauter wurden die Stimmen. Als sie an einer Öffnung vorbei kamen, bemerkte Sally dahinter ein rotes Flackern. Sally blieb stehen und näherte sich der Öffnung. Sie erblickte eine große Höhle, in der zahllose Feuer brannten. Als Sally näher hinsah, bemerkte sie Gestalten, die über den Feuern angekettet waren. Ihr Herz schien stehen zu bleiben. Sie konnte quasi spüren, wie die “Menschen?” dort große Qualen litten. Eine große Wut machte sich in ihr breit. Automatisch ging ihre Hand zum Kristall und umschloss ihn. Er begann zu glühen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, wie schon an der Wand, welche die Höhle von dieser Welt trennte. Doch plötzlich hörte sie die Bergtryaden.
“Tu es nicht, wir würden alle vernichtet werden!”
Erschrocken lockerte sie den Griff um den Kristall und wandte ihren Blick ab von diesem grauenvollen Bild. Die Bergtryaden waren stehen geblieben und starrten Sally aus großen Augen an.
“Du bist ihm einmal entkommen, ein zweites Mal wird es aber nicht geben.” Sie hörte die Worte wie in Trance und drehte sich wieder zu der Öffnung um, konnte aber nur noch die kahle, matt schimmernde Wand entdecken.
Verstört fragte sie die Bergtryaden:
”Was war das? Da war doch gerade noch eine Öffnung, und diese grauenvollen Feuer, und die angeketteten Menschen ”
“Du hast durch deine Anwesenheit für kurze Zeit ein Fenster zum Reich der Unterwelt geöffnet. Wenn der Herrscher über die Unterwelt dies mitbekommt, bist du in großer Gefahr. Es ist bisher noch niemandem gelungen, ihm zu entrinnen, geschweige denn, in sein Reich einzudringen ohne dass er es wollte.”
“Dann lasst uns so schnell wie möglich zu eurer Königin gehen, damit ich diesen Ort wieder verlassen kann!” sagte Sally mit gesenkter Stimme. Jeden Moment glaubte sie, ein Ungeheuer um die Ecke biegen zu sehen, dass sie mit riesigen Klauen greifen und fortschleppen würde.
Vorsichtig machten sie sich dann auch wieder auf den Weg. Schließlich erreichten sie das Ende der Treppe, das in einen langen matt schimmernden Gang endete. In weiter Ferne glaubte sie Stimmen zu hören, Stimmen, die sich langsam zu einem Gesang vereinten. Als sie schließlich um eine Ecke bogen, lag die Höhle der Bergtryaden vor ihnen. Staunend riss Sally ihren Mund auf. “Das also ist euer Reich!”
Von allen Seiten schimmerte es bunt, riesige Stalaktiten hingen von der Decke herab und berührten den Boden. Bei näherem Hinsehen bemerkte Sally, dass in die Stalaktiten eine Treppe eingearbeitet war, die in luftiger Höhe auf einem Podest endete. Sie erkannte jetzt auch eine Tür und Fenster, aus denen einige neugierige Bergtryaden heraus schauten. Da sie sich weit oberhalb des Bodens der Höhle befanden, konnte Sally sie fast ganz überblicken. Gebannt schaute sie dem Treiben dort unten zu und bemerkte dabei nicht, wie sich ihr eine riesige Fledermaus näherte. Wären nicht ihre beiden Begleiterinnen gewesen, die dem Angreifer Einhalt geboten, es wäre um Sally geschehen gewesen. Erschrocken taumelte sie zurück.
“Du scheinst nicht gerade an deinem Leben zu hängen”, sagte eine der Bergtryaden, “Warum sonst stellst du dich als lebendes Futter für unsere Wächter zur Verfügung.”
Sally hatte sich noch immer nicht wieder ganz in der Gewalt, sah aber jetzt, dass der Wächter immer noch in einiger Entfernung von ihnen kreiste und sie genau beobachtete. Es war eine ca. zwei Meter große Fledermaus, die behäbig mit den Flügeln schlug. Sally konnte deren Schlag bereits hören. In einiger Entfernung, in Nähe der Decke sah sie nun auch weitere dieser Wächter kreisen, wahrscheinlich weitere Zugänge bewachend.
“Entschuldigt bitte, aber ich habe mich in eurer Obhut einfach sicher gefühlt”, brachte Sally mit leicht zitternder Stimme hervor.
“Nein, wir müssen uns entschuldigen, wir hätten dich warnen müssen. Aber es kommt auch nicht alle Tage vor, dass wir Besuch bekommen. Aber nun lasst uns hinuntergehen, unsere Königin erwartet uns bereits.”
Sally ersparte es sich zu fragen, woher man von ihrer Ankunft wusste, sie hatte schon so viel Merkwürdiges erlebt, dass sie dies schon als normal ansah.
Langsam stiegen sie die Stufen hinab. Links und rechts der Treppe kamen Sally die kuriosesten Dinge zu Gesicht. Da tummelten sich maulwurfsgroße Geschöpfe auf einem abgesteckten Teil des Bodens und waren unablässig damit beschäftigt, die Erde aufzuwühlen und hinter sich zu schmeißen. Auf einem anderen Teil wuchsen die sonderbarsten Pflanzen, mit grün leuchtenden Blättern und tomatenförmigem Stiel. Dazwischen schlängelte sich ein kleines Rinnsaal, welches scheinbar dazu diente, die Pflanzen ständig mit Wasser zu versorgen. Auf einem anderen abgesteckten Teil waren ein paar Bergtryaden damit beschäftigt, die Früchte anzuschneiden, um den austretenden Saft mit einem kleinen Gefäß aufzufangen. Wo immer man aber auch vorbeikam, überall begegnete man ihnen freundlich.
Schließlich erreichten sie den Boden der Höhle und begaben sich auf direktem Wege, vorbei an Stalagmiten, zur Mitte der Ansiedlung, wo sich der größte von ihnen erhob. Je näher sie ihm kamen, umso mehr Einzelheiten konnte Sally nun auch an ihm ausmachen. Es war ein wunderschönes Exemplar, in allen Farben des Regenbogens leuchtend und mit unzähligen Mustern und Bildern verziert.
Es waren aber nicht einfach nur Bilder, diese Bilder schienen eine Geschichte zu erzählen. Wenn man sie ansah, schien man in eine andere Welt abzutauchen, selbst zu erleben, was sie einem erzählen wollten. Schließlich erreichten sie die Tür, an der sie schon von einer weiteren Bergtryade erwartet wurden.
“Wo bleibt ihr denn nur? Unsere Königin wartet schon ganz ungeduldig auf euren Bericht!”
Sie ergriff Sallys Hand und zerrte sie hinter sich in den Stalagmiten. Ganz überrascht ließ sie sich mitziehen, blickte sich aber hilfesuchend zu ihren zwei Begleiterinnen um, die nun in geringem Abstand folgten. Als sich Sally wieder umdrehte, blieb sie vor Staunen so plötzlich stehen, dass ihre Hand der Führerin entglitt und diese ins Stolpern geriet.
An den Wänden rings um waren in leuchtenden Farben die verschiedensten Geschichten dargestellt. Da fand sie die großen Fledermäuse in Luftkämpfe mit anderen kleineren Kreaturen verstrickt, Bergtryaden, die mit Lanzen auf gehörnte Ungeheuer losgingen, aber auch die kleinen maulwurfsähnlichen Tiere, wie sie auf den Feldern rumwuselten und das Unterste zu Oberst umkehrten.
Je länger sie ein Bild anschaute, umso mehr Details konnte sie darin erkennen. Schließlich wurde sie aus ihren Betrachtungen durch eine helle wohlklingende Stimme gerissen.
“Wenn du dort noch lange stehen bleibst, wirst du eines der nächsten Wandbilder werden, dann kann selbst ich dich nicht mehr vom Fluch des Herrschers der Unterwelt befreien.”
Erschrocken drehte sich Sally um und blickte direkt in die Augen der Königin der Bergtryaden.
“Oh, Entschuldigung ich meine, Eure Majestät ich ähm ”
“Es ist ja noch schlimmer, als man mir berichtet hat”, sagte die Königin. “Man hat mich ja schon vorgewarnt, dass du ein wenig stotterst, aber das übertrifft dann doch meine Erwartungen.”
Zorn über sich selbst stieg in Sally hoch und trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht, aber sie konnte sich gerade noch einmal bremsen, nicht sofort wieder unüberlegt loszustottern.
“Ihr wisst bereits, was passiert ist?”, fragte nun Sally ihrerseits und versuchte eine Verbeugung, die etwas unbeholfen aussah.
“Oh, bitte nicht solche Förmlichkeiten, ich bin Belonia. Die Elfen haben mir von dir berichtet und von dem, was du vorhast. Aber wie konntest du nur so vom Weg abkommen. Man sagte mir, dass du auf direktem Weg zu Saldera seist, um gegen sie zu kämpfen, stattdessen aber legst du dich mit dem Herrscher der Unterwelt an.”
“Es stimmt, wir waren auf direktem Weg zu Saldera und suchten Unterschlupf in einer Höhle, um die Nacht dort zu verbringen. Leider hat uns meine Neugierde dann in diese schlimme Lage gebracht.”
Stück für Stück erzählte Sally