„Ich glaub dir kein Wort!“, schrie er den Boten an. „Die Kleine lebt. Wir werden sie finden.“
„Komm in die Morgue, dann wirst du mehr erfahren.“
Karl schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Eine Weile starrte er auf das Holz. Er konnte es nicht fassen. Er wollte es nicht. Und diesen Gang durch die Morgue, um entstellte Körper anzustieren, würde er nicht überstehen. Zumindest nicht alleine. Er schauderte bei dem Gedanken. Viele hässlich zugerichtete Leichname hatte er in seinem Leben gesehen, aber niemals den eines Menschen, den er liebte. Und er hatte Alberta geliebt. Vielleicht mehr als die anderen. Mehr als Frieda und Rosel. Mehr als Philippine, das Lieblingskind seiner Schlampe von Frau. Alberta war schüchtern und leise. Sie wollte niemandem zur Last fallen. Ihre Schritte waren die eines Vogels. Ihre Berührung zart und flüchtig. Oh, verdammt, sie hatte schrumpelige Hände aber ihn hatten sie nicht gestört, denn er sah ihr in die Augen. Alberta hatte schöne Augen. Große, traurige, sanfte Augen.
Jetzt sollten sie leer, gebrochen, tot sein?. Diese schönen, traurigen Augen würden ihn niemals mehr fragend ansehen? Warum hatte er sich den Fragen in Albertas Augen nie gestellt? Warum? Weil er letztendlich ein Feigling war. Darum! Plötzlich musste er weinen. Er, der hartgesottene Folterer, wurde von einem heftigen Schluchzen geschüttelt.
Zusammengesunken fand ihn Philippine eine Stunde später. Sie hatte Vraem in den Stall gebracht, sie gebürstet, ihr Hafer und Wasser hingestellt.
„Du brauchst nicht mehr zu suchen!“, wimmerte er, als sie eintrat und erschrocken nach seinem Befinden fragte. „Man hat sie gefunden. Im Moor.“
„Nein!“, sagte sie nur, dann stützte sie sich am Türrahmen ab. „Du sagst, man hat sie gefunden. Aber woher wissen sie, dass es Alberta ist?“
„Ja! Woher wissen sie es eigentlich?“ Ein zaghafter Hoffnungsschimmer erhellte Karls Gesicht. „Wir müssen es feststellen. Begleitest du mich?“
*
Geruch nach ausgewässertem Fleisch schlug ihnen entgegen und die Haare stellten sich ihnen auf. Sie näherten sich der Glaswand, die die Toten von den Lebenden trennte. Auf schmutzig grauen Steinfliesen lagen die nackten Körper teilweise unbeschädigt, teilweise von der Fäulnis zernagt. Bei manchen hing das Fleisch in Lappen vom Gesicht und die Knochen bohrten sich durch die Haut. Entsetzt tasteten sich Vater und Tochter weiter. Sie suchten nach den frisch Ertrunkenen und der Aufseher führte sie zu einer Fuhre Leichname, welche in den letzten Tagen eingetroffen waren. Vom Wasser aufgedunsen schimmerten sie bläulich, ähnelten ihre Bäuche aufgeblasenen Ballons und waren die Schenkel zur doppelten Stärke angeschwollen. Während sich Karl Mund, Nase und zum Teil die Augen zuhielt, starrte Philippine mit blassem Gesicht und geweiteten Augen durch die Scheibe. Sie zeigte keinen Ekel, wankte nicht und ihre Stimme klang fest, beinahe nüchtern, als sie sagte: „Dort liegt sie, Vater!“
Sie wies in die Richtung, in der sie Alberta auf den kalten Fliesen entdeckte hatte und ging weiter. Schleppend folgte ihr Karl. Er wagte kaum hinzusehen. Doch Philippine rüttelte ihn, zwang ihn, die Augen zu öffnen. Die Tote hatte den Kopf zur Seite geneigt als ruhe sie. Die Lider gesenkt, die Lippen sanft geschlossen, das Gesicht von einem blassen Lächeln erhellt, schien sie zu schlafen. Ihr nackter Körper sah fast unversehrt aus.
„Sie ist schön!“, sagte Philippine ruhig. Ihr Ausdruck war gefasst, unerschütterlich, als wäre sie innerlich unbeteiligt. „Und sie ist dort gut aufgehoben, wo sie jetzt ist. Gott hat seine Hand über sie gehalten und ihren Körper geschützt. So wie er auch ihre Seele schützte, in dem er sie zu sich nahm. Bei uns wäre sie zugrunde gegangen.“
Karl ließ den Arm herunterfallen und starrte das Mädchen verwundert an.
„Weil sie in der Familie eines Folterknechtes lebte?“
„Nicht allein!“ Philippine legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du bist ein grober Mensch, Vater. Deine Seele ist verroht, Mutter und Frieda hingegen scheinen ihre Seelen verloren zu haben. Sie sind bedrohlich und flößen mir Schauder ein. Manchmal, wenn ich mit ihnen allein in einem Zimmer bin, bekomme ich eine Gänsehaut.“
„Du bist sonderbar!“ Karl hielt sich wieder die Hand vor den Mund und nuschelte: „Deine Mutter liebt dich mehr als alles andere, tut alles für dich, kratzt jeden Pfennig für dich zusammen, damit du es mal besser haben sollst. Ja, ich weiß, sie ist eine Schlampe, aber sie liebt dich. Warum also redest du schlecht von ihr?“
Philippine zuckte die Achseln.
„Weißt du etwas von den beiden, das ich nicht weiß? Ist sie mehr als eine Schlampe?“ In seinen Augen blitzte Argwohn. Ohne das geringste Zögern verneinte Philippine die Frage. Karl glaubte ihr. Er blickte in ihre schimmernden Augen, die auch im hässlichen Licht der Morgue nichts von ihrer Klarheit verloren.
Der Aufseher wies ihnen das Büro, in dem sie ihre Namen nannten und Zeugnis davon ablegten, dass Alberta ihrer Familie angehörte. Karl wurde eine Vollmacht ausgehändigt, die ihm erlaubte, den Leichnam seiner Tochter mit nach Hause zu nehmen.
Alberta landete nicht auf dem Schindanger. Sie bekam ein schlichtes Grab auf dem Friedhof von Saint-Ouen. Lea weinte echte Tränen, indes Frieda wie betäubt in die Ferne starrte.
6. Kapitel
In ruhelosen Nächten erschien die Tote ihrer Schwester Philippine. Alberta konnte keine Antwort geben auf all die Fragen, die das schöne Mädchen mit dem Klumpfuß plagten. „Du kanntest den Weiher, liebe Schwester. Du weißt, wo das Moor beginnt. Warum wagtest du dich zu weit vor? Du warst seltsam und liebtest die Einsamkeit, aber liebtest du auch den Tod? Ich weiß wie sehr du die flüsternde Stille im Schilf den feixenden Lauten unserer Wohnung bevorzugtest. Gerne wärst du ein Teil der Natur geworden, denn sie war dir näher als unsere Familie. So wie mir Vraem näher ist als diese fremdartigen Wesen, die das Böse in sich tragen. Und sag mir, liebe Schwester, warum lächelst du im Tod? War er sanft? War er liebevoll? In welcher Gestalt kam er zu dir? Antworte mir! Ich suche dringend nach einer Antwort, denn ich fühle wie mein Herz in dieser Umgebung erfriert.“
Tagsüber floh Philippine auf dem Rücken ihres Pferdes, jagte an den Ufern der Seine entlang, galoppierte in den Wald, preschte die schmalen Pfade hinauf und hinunter, bis sie sich erschöpft an seinen Hals schmiegte, die Zügel lockerte und ihm die Führung überließ. Zum zweiten Mal, seit sie durch die Wälder ritt, steuerte das Tier auf ein verlassenes Landhaus zu und blieb dort stehen. Es lag tief im Waldesinnern, weit entfernt vom Dorfflecken Saint-Ouen, inmitten eines verwahrlosten Gartens, einsam und still, vom üppigen Laub der Eichen überschattet. Nach drei Seiten hin war es durch hohe Hecken von Blicken geschützt, öffnete sich wiederum nach Westen, wo das riesige Eisengatter aus seiner Verankerung heraus gefallen war. Verwundert sah das Mädchen um sich. In diesem Winkel der Erde konnte man den Klang der Stille hören. Den wispernden, unheimlichen Klang einer anderen Zeit. Nie zuvor war sie auf den Gedanken gekommen, hier halt zu machen. Sie fürchtete sich, Räubern oder gefährlichen Waldwesen zu begegenen.
Jetzt, nach Albertas Tod, spürte sie diese Angst nicht mehr. Bevor sie abstieg, fragte sie, ob jemand hier sei und lauschte dem Echo ihrer Stimme nach. Nichts rührte sich. Sie glitt vom Pferd, nahm Vraem die Zügel ab und griff nach ihrer Krücke. Sich umsehend betrat sie den schmalen Pfad, der zum Haus führte. Vraem folgte ihr. Vor einem prächtigen Brunnen aus unbehauenem Stein blieb Philippine neugierig stehen. Unwillkürlich betätigte sie seine hübsch verzierte Pumpe. Nach einigen kräftigen Schüben sprudelte Wasser aus dem Hahn. Vor Staunen stieß sie einen hellen Schrei aus. Der Schrei erschreckte Vraem, die einen Satz machte und aus dem Garten hinausgaloppierte.
„Lauf nicht zu weit!“, rief ihr das Mädchen unbesorgt nach und wandte sich