Sandburgen & Luftschlösser - Band 1. Karl Michael Görlitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl Michael Görlitz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844231489
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brauchten wir eine Erlaubnis unserer offiziellen Erziehungsberechtigten, sie wären auch schlecht zu verheimlichen gewesen. Jedoch zu dem Wunder der Eisenbahn gelangten die meisten Nachbarschaftskinder ungesehen. Die lieben Eltern wären vermutlich fassungslos gewesen, hätten sie auch nur geahnt, wie viele Mitspieler sich um die Sperrholzplatte scharten, auf der stets eifriger Verkehr herrschte, an-geleitet vom Bruder, der die Trafos bediente. Hatte sie doch schon die Schlange der Wartenden vor meinem kleinen Geschäft äußerst beunruhigt. Doch wir spielten leise, und nur bei den Diskussionen, wer als nächster die Trafos bedienen durfte, wurde es ein wenig lauter.

      Ich war eben ein Kind, das mit allen gut Freund sein wollte und das gelang mir verdammt gut. Es war mir ein Bedürfnis zu teilen, denn allein machten die Sachen wenig Spaß. Ich sammelte geradezu Freunde. Und so ist es lange Zeit geblieben. So verschenkte ich auch völlig uneigennützig die mit Butterpilzen und Maronen gefüllten Spankörbe, die ich im Herbst als begeisterte Sammler aus dem nahegelegenen Wald anschleppte, mochte ich doch das glitschige Zeugs ums Verrecken nicht. Ich aß nur Pfifferlinge, die ich in den Schonungen, durch die die Erwachsenen sich nicht durchzwängen konnten, nur selten fand. Die Körbe mit Pfifferlingen passierten meist ungesehen den Hintereingang unseres Hauses, so wie auch der viele Spargel im Frühjahr, den ich mir selbst nur mit Widerwillen einzuverleiben vermochte. Gern aß ich nur die Köpfe.

      Das hat sich allerdings grundlegend geändert in unserem Erwachsenendasein; bei Peter, wie bei mir. Doch damals aß der Bruder kaum etwas richtig gern. Ein mäkeligeres Kind sah man selten. Die Eltern waren manchmal regelrecht verzweifelt - nichts war recht. Der Fettrand am Kotelett nicht, das magere Fleisch dann leider auch nicht, und Gemüse rührte ihn zu Tränen der Wut. Nur mit Zuckerzeug konnte man sein Leben versüßen und er futterte mit Begeisterung die bunten Fondantkringel vom Weihnachtsbaum, oder die halben Ostereier mit den quittengelben Dottern aus der gleichen zahnfreundlichen und zart schmelzenden Masse.

      Schokolade war zum Fremdwort geworden, auch für uns. Die Ersatzpasten, die im Handel angeboten wurden, schmeckten wie gemahlener Bimsstein, und oft stand ich sehnsüchtig vor dem stillgelegten Schokoladenautomaten mit der lustigen Bärenkapelle, die nicht mehr tanzte und spielte, und überlegte, wie schön es doch in Friedenszeiten gewesen sein musste. Für nur zwanzig Pfennige hätte man so einfach eine Tafel ziehen können und dabei auch noch die Puppen tanzen lassen. Was für eine wunderbare Zeit das wohl gewesen sein muss. Alle sprachen nur von dem Wohlstand, der vormals geherrscht hatte und wie billig es in Friedenszeiten gewesen war. Jetzt gab es nur rote Kunstbrause und Bier in der Elbterrasse, letzte stumme Zeugin vergangener Pracht.

      Wörlitz hat mich immer begleitet. Wörlitz ist an allem Schuld! Der Eindruck war zu überwältigend. Stellen Sie sich das nachkriegsgraue Coswig auf der einen Elbseite vor, durch das die Panzer und Autos der sowjetischen Besatzer rollten. Die einzigen Farbflecken waren die vielen roten Spruchbänder, auf denen der Sieg des Sozialismus gefeiert wurde. Auf der anderen Elbseite, durch einen strammen Fußmarsch gut erreichbar, die heitere gelb-weiße, klassizistische Architektur des Wörlitzer Schlosses mit seinen vielen zusätzlichen Schmuckbauten. Für ein Kinderherz barg dieser Garten eine überwältigende Fülle an Attraktionen. Da gab es Kettenbrücken, über die man ganz schnell laufen musste, weil sie sonst zu schnell hin und her schwangen. Wackelbrücken, eigentlich kleine Flöße, auf denen man zum nächsten Inselchen balancieren musste, richtige Höhlen, dunkle Durchgänge, in denen sich so schön schaudern ließ. Einen Irrgarten, Tempelchen, Grotten, verschiedene Gemäuer, an jeder Ecke war etwas anderes. In der Mitte lag das berühmte Schloss. Wer keine Lust mehr hatte, durch diesen Garten Eden zu wandern, konnte sich in eine Gondel setzen und von Schwänen begleitet über die vielen Teiche und Kanäle rudern lassen.

      Dieser Park wurde in meiner Erinnerung dann auch prompt zum Symbol für das verlorene Paradies meiner Kindheit. Bei späteren Besuchen habe ich feststellen können wie sehr dieser Park, ohne dass es mir bewusst wurde, mein ganzes Schönheitsempfinden prägte.

      Dann gab es in Dessau noch das berühmtere Bauhaus. Ein modernes Bauwerk aus Stahl und Glas. Meine Eltern zeigten es mir, in seinem Nachkriegszustand, mit abgeplatztem Putz schien es mir damals eher erbärmlich. Heute, wo es herausgeputzt wieder da steht, ist es viel beeindruckender. Damals schien es mir nichtssagend, schmucklos und langweilig.

      Eine Enttäuschung - dabei sollte ich später mit den Lehren des Bauhauses so vertraut werden. Aber immer habe ich heimlich an Wörlitz gedacht - auch wenn mir anfangs selbst nicht ganz klar war, warum ich Antiquitäten so heiß liebte und begehrte. Bauhaus stand für die Moderne, Wörlitz für den Zaubergarten der Phantasie. Dabei blieb es auch später.

      Das Bauhaus machte ich verantwortlich für eine Architektur, die sich darin erschöpfte, Karnickelställe über und nebeneinander zu packen, und das Ganze mit einem schnörkel- und phantasielosen Schuhkarton zu umschließen.

      Wörlitz war anders. Ein Wunder. Fürst Franz, der Erbauer, gefiel mir. Er hatte von Anfang an seinen Park den Landeskindern geöffnet. Er führte große Wirtschafts und Schulreformen durch. Er mochte an den Kriegszügen von Friedrich II. nicht teilnehmen. Und ich glaube heute, Fürst Franz war ein bisschen schwul. Kunstwerke in seinem Schloss nähren diesen Verdacht.

      Wörlitz war auch der Anlass, sich schon früh mit den verschiedenen Architekturstilen auseinanderzusetzen. Ich konnte damals schon ziemlich gut unterscheiden, was wirklich alt und ehrwürdig war und was nur so aussah als ob, aber in Wirklichkeit der vielgeschmähten Gründerzeit angehörte. Beispiele gab es in Hülle und Fülle in Wittenberg und Coswig, die vom Bombenhagel verschont geblieben waren.

      In Coswig gab es nicht einen einzigen Neubau, alles besaß ein gewisses Alter. Richtig alt waren Schloss, Rathaus und Kirche, sowie die meisten Bürgerhäuser der Hauptstraße. Jedoch die Bauwerke, die die Haupteinkaufsstraße flankierten, konnte man fast alle getrost jener verfemten Gründerepoche zuordnen, deren Schmuckelemente so verdächtig gleichmäßig waren, dass sie nur in einer Fabrik produziert worden sein konnten.

      Oft hatte ich an Coswigs großer Kreuzung gestanden und zum übertrieben verschnörkelten Balkon des nicht gerade bescheidenen Eckhauses hinaufgeblickt. Ganz so schlecht wie die Anderen, die das vollkommen unmoderne Haus regelrecht niedermachten, fand ich es nun auch gerade wieder nicht. Eigentlich war es doch ganz schön, nur nicht so alt, seine Errichtung lag noch keine fünfzig Jahre zurück. Im Grunde war es doch viel hübscher als das Haus, in dem wir wohnten, und das keinerlei Stuckaturen aufzuweisen hatte. Altehrwürdig würde es vielleicht in hundert Jahren sein. Doch dann wäre ich selbst schon nicht mehr unter den Lebenden, was ich mir schlichtweg nicht vorstellen konnte.

      Im Wörlitzer Park gab es ein venezianisch-gotisches Haus, eine mittelalterliche Burgruine, römische Villen und Tempel, eine barocke Synagoge, antike Säulen und Grotten, in denen steinerne Götter lagerten. Sogar eine Nachbildung des feuerspeienden Vesuvs, eigentlich ein Feldsteinhaufen mit angebautem Wasserschlösschen, stand in der hintersten Ecke. Irgendwie ein frühes Disney-Land für die gebildeten Stände, und leider ohne Achterbahn. Doch genau so lehrreich.

      Auch die Coswiger Kirche besuchte ich sonntags weniger aus Frömmigkeit, sondern weil ich gern in ihrem barock ausgestatteten Innneren saß. Ich bewunderte die reich beschnitzte vergoldete Kanzel, die bemalten Emporen, die seitlich des Kirchenschiffs verliefen, und vor allem den prunkenden Altar mit der Darstellung eines himmelfahrenden Christus. Auf dem Bild hielt der durch Wolken emporsteigende Erretter, die rechte Hand wie zum Schwur erhoben, dem himmlischen Vater entgegen, während er unverwandt und streng uns erbärmlichen Sündern entgegen starrte. Mit der Linken zog er ein barock endlos gefältetes Gewand hinter sich her, das außerordentlich unbequem wirkte.

      Ich ging aus einem gewissen Unterhaltungsbedürfnis zum Gottesdienst, Orgel und Gesang sorgten für Abwechslung. Auf dem Land ist das eben so. Auch am freiwilligen Religionsunterricht, der nachmittags in den Klosterräumen erteilt wurde, nahm ich aus ähnlichen Beweggründen teil. Da wurden doch hochinteressante Geschichten aus der Bibel erzählt. Zu Hause hörte man davon nie, die Eltern und der Bruder waren keine Kirchgänger. Natürlich war ich auch ein wenig fromm geworden, das bleibt bei einem solchen Lebenswandel eben nicht aus.

      Unser Rathaus aus der Renaissance-Zeit beherbergte ein kleines Heimatmuseum. Der Marktplatz daneben war zu Gunsten eines Feuerlöschteiches geopfert worden. Manfred Krug planschte