Erinnerungen eines Lausbuben. Attila Jo Ebersbach . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Attila Jo Ebersbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634195
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im Chor sangen das Publikum und meine Kollegen wieder und wieder den Refrain des Liedes: ‚Das kommt davon, wenn man auf Reisen geht! Das kommt davon, wenn man auf Reisen geht!‘

      Ich weiß nicht“, schloss er seinen Bericht, „welche Erleichterung größer war: die, dass der Spuk nun ein Ende hatte oder die, dass du endlich da warst. Ich glaube aber, es war wohl Letzteres.“

      Die Flucht

      Gebannt starrte ich auf ihre Lippen, erpicht, mir kein Wort der erschütternden Schilderung ihrer Flucht aus Schlesien entgehen zu lassen, damals, im Winter fünfundvierzig, ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes. Soldaten auf dem Rückmarsch jagten Neißebrücken in die Luft und überholten den Treck auf seinem Weg gen Westen.

      Über Nacht hatte sie alles aufgeben müssen, war geflohen, mit kaum mehr, als was sie am Leibe trug. Das Kind im Arm, den Rucksack mit Notwendigem auf ihren schmalen Schultern.

      Hinter sich das Inferno.

      Vor sich die Ungewissheit.

      Schon die Wochen zuvor seien die reinste Hölle gewesen, erzählte sie unter Tränen. Die Angst vor Russen und Polen, vor Vergewaltigung, Brandschatzung und Plünderung. Sie war allein, ihr Mann wer-weiß-wo im Krieg. Doch sie hatte Haus und Hof nicht ohne Not aufgeben wollen.

      Erst im letzten Moment war sie aufgebrochen.

      Nach endlos dauernder Qual durch schneeverwehte Einöde; Erfrorene am Wegesrand und aufgeknüpfte Deserteure als Warnung für Fahnenflüchtige; als sie schon von mehreren Karren mit Pferden, auch einem Lastwagen, überholt worden war; sie das vor Hunger und Kälte schreiende Kind unter Tränen an ihre Brust gedrückt hatte und sich, an einen Baum gekauert, bereits aufzugeben bereit war – da hatte ein Karren gehalten. Ein schäbiger Leiterwagen, von einem müden Klepper gezogen und voll mit Hausrat. Ein älteres Paar auf dem Bock, in Decken gehüllt.

      „Mühsam stieg die Frau ab“, erzählte sie, „und kam auf mich zu. Nahm mir das Kind aus dem Arm und reichte es ihrem Mann. Der hüllte es in eine warme Decke. Die Frau zog mich hoch und musste dabei all ihre Kraft aufwenden, denn ich war schon steif vor Kälte und nicht mehr in der Lage, mitzuwirken. Sie half mir auf den Wagen, machte inmitten des Gerümpels ein schützendes Lager zurecht und gab mir ein Stück trockenes Brot und lauwarmen Tee. Derart gestärkt, konnte ich dem Kind die Brust reichen. Endlich satt und zufrieden, schlief es ein.“

      Sie machte eine kleine Pause und sah mich mit verschleierten Augen liebevoll an. Ich legte meine Hand auf ihren Arm, und an ihrem Zittern erkannte ich, wie sehr sie die Erinnerung erschütterte und wie schwer es ihr fiel, mir von damals zu berichten.

      „Dann kam die Frau nach hinten“, erzählte sie weiter. „Sie nahm mich in den Arm, drückte mich an sich und streichelte mir beruhigend den Kopf. ‚Wir, ich und mein Mann‘, sagte sie nach einer Weile, ‚würden uns gerne um Sie kümmern. Wissen Sie, wir haben keine Kinder mehr. Sie fielen beide in Russland. Zwei Söhne. Prächtige Kerle ...‘ Sie wischte sich über die Augen und ergänzte: ‚Wir wären daher glücklich, wenn wir Ihnen und Ihrem Kind helfen könnten. Wir kommen uns sonst so nutzlos vor.‘

      Ich war dermaßen überwältigt“, fuhr sie fort, „dass ich die Frau nur wortlos anstarren konnte, so unwahrscheinlich schien es mir, dass in dieser furchtbaren Zeit ein Mensch so gütig zu einem anderen sein konnte.

      Dann brach ich in Tränen aus“, beendete sie schließlich ihren Bericht. „In Freudentränen. Und nur dem Umstand, dass dieses liebe Paar uns aufgenommen und bei sich behalten hat, haben wir es zu verdanken, du mein Sohn und ich, dass wir heute noch leben.“

      Der Fremde mit der Schokolade

      Stets war es mir rätselhaft, wie es kommt, dass sich bestimmte Erlebnisse aus sehr frühen Jahren in einem Kindergedächtnis festsetzen können, für alle Zeiten wie eingebrannt, obwohl sich das Kind, abgesehen von dem betreffenden Ereignis, an den eigentlichen Zeitraum überhaupt nicht mehr erinnern kann.

      Zwei solcher Erlebnisse sind für immer und ewig in meinem Gedächtnis haften geblieben, und wenn ich die Lider schließe, spulen sie wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.

      Ein brennendes Haus. Mama und Tante Hella stehen auf der Straße und fangen aus dem ersten Stock geworfenes Bettzeug und Kissen auf. Ich stehe etwas entfernt von den beiden und blicke verwirrt auf die Szene: Ich spüre die Hitze der Flammen, höre die Schreie der Menschen und begreife dennoch nicht, was sich vor meinen Augen abspielt.

      Jahrelang verfolgte mich dieses Bild, aber ich wusste es nie einzuordnen.

      Später einmal dann fragte ich meine Mutter, was das gewesen sein könne. Und auch sie erinnerte sich an jenen Tag. Es war, berichtete sie, ein Bild aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges und ich knapp zwei Jahre alt, als das Haus, in dem wir nach unserer Flucht aus Schlesien Zuflucht gefunden hatten, von einer Bombe getroffen wurde und abbrannte.

      Die zweite Episode habe ich dann schon besser verstanden. Aber auch hier fehlt mir das Davor und Danach.

      Es war gut ein Jahr nach Kriegsende und ich etwa dreieinhalb Jahre alt. Besuchte mit meinen beiden Kusinen Heidi und Claudia den Kindergarten der Ordensschwestern. An diesen selbst und all das Drumherum, auch an meine Kusinen, kann ich mich kaum mehr erinnern. Zwei Dinge jedoch sind es, die ich noch heute wie zum Greifen nah vor mir sehe: den Weg entlang der Kirche zum Kindergarten, zwischen Blumenbeeten und mit Kies bestreut – und Schwester Margarete: eine riesengroße, liebevolle und stets lächelnde Ordensfrau, in die ich irgendwie verliebt war.

      Aber vielleicht erschien sie mir auch nur deshalb so groß, weil ich selbst noch so klein war.

      Eines Vormittags, es muss Sommer gewesen sein, denn ich trug kurze Hosen und ein dünnes Hemdchen, kam Schwester Margarete aufgeregt zu mir.

      „Du, komm schnell,“ rief sie, „dein Papa ist zurück!“ Damit nahm sie mich bei der Hand und zog mich eilends zu besagtem Kiesweg.

      Die Sonne lachte vom Himmel, als mich die Schwester sachte auf den Weg schubste, selbst aber in der Tür stehen blieb.

      Mitten auf dem Weg, in ein paar Metern Entfernung, sah ich einen großen, kräftigen Mann mit schwarzer Hose und weißem Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, der langsam in die Hocke ging und mich mit ausgebreiteten Armen anstrahlte.

      Der Mann war mir fremd. Ich zögerte. Wusste nicht, was ich tun sollte. Schaute ängstlich zwischen ihm und Schwester Margarete hin und her. Hmm.

      Sie kannte ich. Sie liebte ich. Aber diesen Mann, den kannte ich nicht. Obwohl – das Wort „Papa“ hatte ich irgendwann schon einmal gehört. Vielleicht von Mama. Trotzdem – ganz geheuer war mir das alles nicht. Also entschloss ich mich, lieber zu Schwester Margarete zurückzukehren. Bei ihr fühlte ich mich sicher.

      Doch sie ließ es nicht zu. „Geh zum Papa“, sagte sie bestimmt, drehte mich wieder in seine Richtung und gab mir, wohl als Aufforderung zu ihm hinzugehen, einen kleinen Klaps auf den Po. Ich begann zu heulen.

      Der Mann breitete die Arme aus. Lachte mich an und rief: „Söhnchen, komm her zu mir! Brauchst doch nicht zu weinen! Komm, dein Papa ist wieder da!“ Dabei schaute er so lieb, dass langsam das Eis schmolz.

      Jetzt erschien er mir gar nicht mehr so ungeheuerlich. Ich hörte auf zu weinen. Drehte mich noch einmal zu Schwester Margarete um. Die nickte mir aufmunternd zu. Da fasste ich Mut und ging langsam auf den Mann zu.

      Und mit einem Male zauberte er aus seiner Hemdentasche etwas hervor. Es war flach und hatte eine violette Hülle. Die riss er auf. Ich sah eine dunkelbraune dünne Tafel. Von der brach er ein Stück ab und hielt es mir hin. Ich weiß heute nicht mehr, ob mir Schokolade schon vorher bekannt gewesen war oder nicht. Aber die Verpackung hatte vielversprechend ausgesehen, also griff ich zu.

      Papa sagte: „Schau, das ist Schokolade. Hab ich dir extra aus Amerika mitgebracht. Aus der Gefangenschaft. Kannst ruhig reinbeißen!“

      Vorsichtig