Mauerblume. Rita Kuczynski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita Kuczynski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844263367
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Nähe seiner älteren Schwester, die er über alles liebte. Alex fühlte sich auf eine unheimliche Weise von metaphysischen Fragen angezogen, hatte aber, bis er mich kennenlernte, eine Distanz zu ihnen halten können, auch weil seine Schwester gegenüber dem jüngeren Bruder Distanz wahrte, wozu ich in gar keiner Weise fähig war.

      Neben Heidegger las ich Hölderlins “Hyperion”. Ich las ihn täglich, wie eine Bibel. Die Trauer um unwiederbringlich Verlorenes, die aus jeder Seite seines Romans sprach, brachte mir die Gewißheit, daß ich mit einem Verlust nicht allein war. Eher zufällig griff ich in dieser Zeit auch zu einer Taschenbuchausgabe von Hegels “Phänomenologie des Geistes”, die ich bei Alex’ Schwester fand. Es war das erste Buch, das ich von Hegel las. Der Rhythmus, in dem Hegel schrieb, war mir vertraut, die Satzmelodie bekannt. Sie erinnerte mich an Bach, genauer an die Struktur der Bachschen Fuge, an die Schrittfolge der Verknüpfung von Ton und Ton und daran, daß die Auslassung eines einzigen Schritts die ganze Komposition zum Einsturz zu bringen vermochte. Ja, an die “Kunst der Fuge” wurde ich beim Lesen der Hegelschen Sätze erinnert. Endlich widerschien da etwas aus meiner zerbrochenen musikalischen Existenz, das mir vertraut war, ein Rhythmus, ein Klang, an denen ich festhalten wollte, unbedingt. Ich war übervoll von Erlebtem und konnte die Erfahrung des Lebensbruchs dazugeben, mußte sie dazugeben, denn irgendwie mußte ich, um weiterzuleben, mit dem fertigwerden, was ich erlebt hatte. Läßt sich der Bruch berechnen, entsteht die Chance, nie wieder durch alle Raster ins Bodenlose zu fallen. Wenn es Regeln für Kontinuität gab, gab es auch Regeln, die ihren Abbruch berechenbar machten.

      Ich hatte also endlich eine Frequenz gefunden, in der Kommunikation versucht werden konnte, Verständigung, die meine Sprachlosigkeit vielleicht aufzuheben vermochte. Weit ab von der wirklichen Welt, in der ich umherlief, hörte ich eine Wellenlänge, die für mich kommunizierbar schien. Den Heideggerschen Satzrhythmus setzte ich gegen den Hegels. Daß bei Hegel der Bruch nicht Abbruch war wie bei Heidegger, ließ mich immer wieder aufhorchen. Das war eine Art Trance, in die mich diese Sätze versetzen konnten. Entrückt vom Alltag, ging ich in meine Nachtschichten zum Glühlampenwerk und packte die Glühbirnen in ihre blauen Pappschachteln und war mit Sein und Nichts beschäftigt.

      Ich hatte ein mir verträgliches Maß zwischen Bandarbeit und Existenzphilosophie gefunden und war einigermaßen im Lot mit mir, da trat Alex’ Schwester auf mich zu. Sie meinte, ich hätte nun wohl genügend Kraft geschöpft, um es doch noch darauf ankommen zu lassen, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Sie habe sich in der Medizinischen Fachschule des Krankenhauses erkundigt, in dem sie als Medizinische Assistentin arbeitete. In jenem Jahr waren noch Studienplätze für den Beruf als Diätassistentin frei. Ich sollte mich doch bewerben. Da Alex ihre Meinung teilte, schaute ich mir an, um was es ging. In einer Lehrküche der medizinischen Schule wurde mir der Beruf praktisch vorgeführt: In unzählig kleinen Töpfen wurde Essen für Leberkranke, Gallendiäten, Brei für Magenkranke und Schonkost für Nierenpatienten angerührt. Schülerinnen mit weißen Haarnetzen versuchten ihre Suppen.

      Die Idee, ab September auch vor solchen Töpfchen zu stehen und salzarme Diäten zu rühren, mobilisierte meine tatsächlich wiedergekehrten Lebenskräfte. Energisch kümmerte ich mich um einen Studienplatz im Fach Philosophie. Alex war nicht begeistert. Er wollte, daß ich einen ordentlichen Beruf erlernte. Ordentlich war für ihn, was seine Schwester tat, wenn ich nicht wie er ein Ingenieurstudium auf mich nehmen wollte. Meine Neigung zur Mathematik hatte er längst herausgefunden.

      Ich blieb bei der Philosophie. Alex’ Schwester verstand mich und half. Sie kannte jemanden in Leipzig, der jemanden in Leipzig kannte, und der wieder kannte den Dekan der Philosophischen Fakultät. Eben diesem Dekan erzählte ich von dem traurigen Niedergang meiner musikalischen Existenz. Da er selbst musisch interessiert war und eine Schwester hatte, die ganz und gar in Musik aufging, wie er sagte, hatte er einiges Verständnis für musikalische Talente. Wir saßen lange in einer Speisegaststätte zusammen, wie Restaurants in der DDR hießen. Geduldig hörte er sich an, was ich zu sagen hatte über Sprache und Musik. Bei Sauerbraten mit Thüringer Klößen und Rotkohl erzählte ich ausführlich über den Zusammenhang des Bachschen Kontrapunktes mit der Hegelschen Satzmelodie und versuchte, ihn zu überzeugen, daß da strukturelle Gemeinsamkeiten bestünden, die ich spürte, aber unfähig war, sprachlich zu formulieren, was sich natürlich ändern würde, sobald ich Philosophie studierte. Ein Zusammenhang bestünde, ich hörte ihn ganz deutlich. Er könne mir schon glauben. Und was Bach betraf, glaubte er mir auch. Was er nicht glauben konnte, wie er mir später gestand, war, daß ich nicht wußte, was Philosophie in einem sozialistischen Land war.

      Aber erst einmal versprach er, sich zu kümmern. Er wußte von den Schwierigkeiten der Immatrikulation für Studenten, die wie ich gestrauchelt waren, gab er mir zu verstehen. Ich solle inzwischen aber zumindest in ein Lehrbuch für marxistisch-leninistische Philosophie hineinsehen. Meinen Immatrikulationsbescheid bekam ich später von ihm persönlich zugeschickt und ging nach Leipzig.

      Den an einzelne Personen gebundenen politischen Machtbefugnissen und der Möglichkeit ihrer willkürlichen Handhabe verdanke ich es, daß ich als Quereinsteigerin irgendwann immer da landete, wo ich landen wollte. Irgendeine der zuständigen Autoritäten hatte sich letztlich für mich persönlich eingesetzt und politische Verantwortung für mein Tun übernommen. Innerhalb der politischen Führungsschicht gab es immer wieder Menschen, die sich für mich einsetzten und auch ein Risiko übernommen haben, da sie damit rechnen mußten, daß ich mich politisch nicht korrekt verhielt, schon weil ich nicht wußte, was in der DDR politisch korrekt war. Damals begriff ich die Zivilcourage dieser Führungskader als menschliche Handlungen von Edelkommunisten. Daß ich politisch auch entmündigt war, begriff ich erst viel später.

      In der Einführungsvorlesung für marxistisch-leninistische Philosophie erfuhr ich von einem blond und blauäugigen Professor mit Specknacken, daß hier niemand abginge, der nicht Mitglied der SED geworden sei und nicht verantwortungsvoll gegenüber dem Arbeiter-und-Bauern-Staat handeln würde. Ich hatte alle Mühe, keine Panikattacke zu bekommen.

      Er sprach von der Arbeiterklasse, der zu dienen meine oberste Pflicht als Philosoph sei. Ich schluckte heftig, denn aus der Arbeiterklasse hatte sich gerade mein Vater bei der Universität gemeldet. Er hatte von meiner Mutter gehört, daß ich zum Studium nach Leipzig gegangen war. Bei der Universitätsleitung hatte er vorgesprochen. Er wollte klarstellen, daß ich erstens nicht normal sei, das könne bei den Psychiatern in Berlin nachgefragt werden, und daß ich zweitens politisch-moralisch eine Null sei. Dem Dekan erklärte er, er sähe überhaupt nicht ein, warum er für mich ein Stipendium zahle sollte. Er denke nicht im Traum daran. Er habe schließlich auch nicht studieren können. Mir erklärte der Dekan, daß meine Eltern zahlen müßten, ich könnte sie verklagen. Eltern, die über eine bestimmte Grenze hinaus Geld verdienten, müßten für das Stipendium ihrer Kinder aufkommen. Schließlich gäbe es Gesetze. Die Universität würde hinter mir stehen. Im Prorektorat für Studienangelegenheiten könnte ich die Einzelheiten erfahren.

      Mir fehlte es an Kraft und Mut zu solch einem Gerichtsverfahren. Ich entschied, meine Nachtschichten in Leipzig weiterzuführen. Wenn auch nicht im Großbetrieb, sondern in der Nachtbar eines Interhotels, in der ich als Bardame vorsprach. Meine Kenntnisse von Wein, Weinbränden, einschließlich des Wissens, welches Glas für welches Getränk zu benutzen war, überzeugte das Barpersonal in einer Probeschicht. Daß ich bei meiner Großmutter für Abendgesellschaften mit dem Hauspersonal oft den Tisch decken mußte, kam mir also hier zugute. Da es ein Interhotel war, waren die meisten Getränke Import, das heißt aus dem Westen. Bei den Weinen hatte ich zu lernen, daß es ungarische, bulgarische und rumänische gab.

      Da hatte ich also wieder mein Kontrastprogramm. Am Tage hörte ich Vorlesungen über die Vorzüge des dialektischen Materialismus und darüber, daß der Sozialismus siegen würde. Nachts mixte ich Cocktails und kokettierte mit den feindlichen Devisenbringern im Hotel Deutschland. Ich lernte meine Schweigsamkeit funktional einzusetzen. Ich sagte nichts, wenn ich aus meiner Buntlicht-Bar übernächtigt in die Vorlesung für Sozialismustheorie ging und hörte, daß es im Sozialismus keine entfremdete Arbeit gäbe. Ich hatte zum ersten Mal seit dem Niedergang meines musikalischen Talents wieder ein Ziel. Ich wollte wissen, was der Sinn des Lebens und der Welt war.

      Damals faßte ich den Entschluß, nie Kinder zu gebären. Ich wollte zu jeder Zeit meine Zeit abbrechen können.