Zu den wichtigsten Wörtern meiner Kindheit gehörten: Freund und Feind, wobei über den Feind mehr geredet wurde als über den Freund. Das fiel mir allerdings erst recht spät auf. In Westberlin erinnere ich mich, so gut wie nichts über den Freund gehört zu haben, jedenfalls nichts, was sich mir einprägte. In Ostberlin wurde mir der Sowjetmensch als Freund angepriesen. Da ich keine Sowjetmenschen kannte, gingen mich diese Freunde nichts an.
Über den Feind hörte ich mehr. Vom Feind wußte ich bald, er war örtlich organisiert. Er befand sich mitunter in der Familie. Ich will sagen: hielt ich mich in Ostberlin auf, war mein Großvater ein Feind, weil er in der CDU war und damit die Amerikaner unterstützte. Hielt ich mich in Westberlin auf, war mein Ostopa der Feind, weil er in der SED organisiert und russenfreundlich war. Wenn mein Westopa nicht immer etwas Furcht vor meiner Großmutter gehabt hätte, hätte er selbst meine Mutter eine Feindin genannt, weil sie auch in der SED war. Aber das traute er sich nicht. Dafür haßte er meinen Ostopa mehr als nötig, ich meine, er bekam die Portion für meine Mutter einfach mit. Ich konnte an den Feind nicht glauben. Mir war der Feind egal.
Gegen den heißen Krieg zu Hause habe ich mit meiner Schwester trainiert. Ich nannte es das Baggispiel. Bei diesem Spiel ging es darum zu lernen, Schmerzen auszuhalten. Um das zu erreichen, schlugen wir uns gegenseitig oder stachen uns mit Nähnadeln. Dabei trainierten wir, uns den Schmerz nicht anmerken zu lassen, das hieß, nicht zu weinen oder zu schreien. Darauf kam es doch an, nicht zu zeigen wo und wann es besonders wehtat. Denn ließ ich mir anmerken, wann und wo die Schläge vom Vater wehtaten, hatte er es sich für das nächste Mal gemerkt und schlug genau auf diese Stellen. Es war daher das Einfachste, den Schmerz zu verstecken, wenn der Vater schlug.
Der Vater war doch in Stalingrad. Da hatte ihn der Feind unvermutet geschlagen. Nachdem er von dort nach Hause kam, schlug er Mutti und uns, vor allem, wenn er betrunken war. Außerdem hatte sich der Vater geschworen, wachsam zu sein und sich nicht noch einmal vom Feind überrollen zu lassen. Deshalb durchsuchte er, wenn wir in der Schule waren, unsere Zimmer. Inspektion nannte er diesen Vorgang, der bedeutete, daß er alle Schubladen, Fächer und Schränke, auch Betten nach Feindmaterial absuchte. Das Feindmaterial konnte ein West-Kaugummi sein oder ein Lackbild, ein Fahrschein, auf dem zu lesen war, daß ich Sonntag um 11.32 Uhr auf der U-Bahnstrecke Vinetastraße nach Stadtmitte unterwegs gewesen war. Wenn ich dann nach Hause kam, begann das Verhör: Wo warst du am Sonntag von 11.32 Uhr von Pankow hin unterwegs? Wenn ich es nicht wußte, bekam ich Schläge, wenn ich es wußte, bekam ich sie auch, weil er, der Vater, ja nicht erfahre, wo ich mich herumtrieb; weil er nie erfuhr, wo ich sei, weil er ja permanent hintergangen würde. Aber wir sollten ihn nicht für dumm verkaufen. Er bekäme es schon heraus. Derartige Siege des Vaters über einen Fahrschein, einen Kaugummi oder ein eingetauschtes West-Lackbild hielten mich frühzeitig dazu an, das Verstecken zu üben. Da der Vater unsere Zimmer auch durchsuchte, wenn wir dabei waren, merkte ich mir die Stellen im Kleiderschrank oder unter dem Fensterbrett. Mein Versteck mußte raffinierter sein. Es durfte als Versteck nicht erkannt werden. Ich trainierte daher das Versteckspielen mit dem Vater.
Daß meine Mutter meinen Vater nicht zum Teufel geschickt hat, nahm ich ihr lebenslang übel. Ihr Argument, daß er schließlich ihr Mann und unser Vater sei, verstand ich nicht. Was hatte ich damit zu tun. Ihre Beteuerungen, daß sie nicht werden wollte wie ihre Mutter, waren auch nicht überzeugend. Ihre Mutter, meine Westoma, heiratete alle sieben Jahre aufs neue, weil sie entweder die Männer davongejagt hatte oder sie ihr gestorben waren. Meine Mutter hatte keine Chance zu werden wie ihre, schon weil sie so unmusikalisch war. Meine Großmutter war Sängerin, und als solche hatte sie einigen Erfolg. Meine Großmutter war recht unglücklich über die Heirat meiner Mutter. Mein Vater tat ihr leid, aber daß meine Mutter mit ihm ihr Leben zerstörte, wäre nicht Liebe, sondern bodenlose Verstocktheit, sagte sie.
Meine Mutter leistete an meinem Vater, dem Sohn aus der Arbeiterklasse, eine Art Wiedergutmachung der Bourgeoisie an der ausgebeuteten Klasse. Denn meine Mutter hatte in Ostberlin, von wo sie auf keinen Fall weg wollte, den Makel, daß sie nicht aus der Arbeiterklasse, sondern aus der bürgerlichen Intelligenz kam. Sie hatte an meinem Vater daher eine Schuld abzubüßen und mußte immer etwas mehr tun bei ihrem ohnehin schon lobenswerten Einsatz für den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat in Deutschland. Meine Mutter hatte der Arbeiterklasse zu dienen, wie sie sagte. Deshalb war sie auch in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Ich war eifersüchtig und wütend auf die Partei, in der meine Mutter Mitglied war und für die sie bald als Partei-Funktionärin arbeitete. Ich will sagen, meine Mutter und auch der Ostopa hatten nie Zeit für mich, weil sie ständig für das Glück der ganzen Menschheit unterwegs waren. Das war ihnen immer wichtiger als ich, und das kränkte mich. Mein Westopa, der von Ostberlin her gesehen ein Feind war, hatte alle Zeit für mich. Vor allem sonntags, nachdem er mit mir aus der Kirche kam. Da war er besonders fröhlich und ausgeglichen. Dafür liebte ich ihn.
Ich lebte mit der Grenze, ich lebte auf der Grenze, ich lebte an der Grenze. Es gab Straßen in Berlin, da gehörte die linke Seite zum Ost-, die rechte zum Westteil der Stadt. Die Volkspolizei Ost durfte nicht auf die rechte Seite der Straße, weil sie dann den demokratischen Sektor von Berlin verlassen hätte. Die Polizei auf der Westseite hatte die gleichen Anweisungen, halt nur von einer anderen Behörde. Viele Kinder machten es wie ich, sie machten ihre Spielchen mit den Polizisten beider Seiten. Sie beschimpften sie und rannten dann auf die andere Seite der Straße, das hieß in den anderen Teil der Stadt, in dem eine andere Besatzungsmacht bestimmte.
Da die Polizisten als Polizisten zwei sich feindlich gegenüberstehenden Mächten dienten, durften sie sich innerhalb ihrer Dienstzeit nicht helfen.
Von einer Straße zur anderen in einer anderen Welt und damit einem anderen Wertesystem angekommen zu sein, hatte etwas Faszinierendes für mich. Plötzlich galten andere Regeln, die zu beherrschen ich bemüht war, um mich in beiden Systemen frei bewegen zu können. Ich machte die Grenzüberschreitung von einem System zum anderen zu meinem Spiel. Niemand sollte mir ansehen, ob ich aus dem Westteil gerade in den Ostteil oder vom Ostteil gerade in den Westteil unterwegs war. Ich wollte unerkannt bleiben.
Ost- und West-Berlin wurden über die Jahre für mich zwei Bühnen mit unterschiedlichen Spielplänen, Requisiten und Akteuren. Und in gewisser Weise stimmte es ja selbst von den Lichtverhältnissen her gesehen, die zu jeder Bühnenausstattung gehörten. War ich in Westberlin, leuchteten die bunten Reklameschilder, an denen ich mich nicht sattsehen konnte. Kam ich nach Ostberlin, war Licht kein Faktor für die Inszenierung. Dafür gab es überall Losungen und Sprüche für Freiheit und Sozialismus, gegen die imperialistischen Kriegstreiber. Die Geschäfte hießen nicht Bilka oder Wertheim, sondern HO und Konsum. Wenn es dort etwas zu kaufen gab, bildeten sich lange Schlangen vor den Läden.
Zwei Spielstätten mit unterschiedlichen Programmen, das prägte sich mir ein. Dreh- und Angelpunkt der Bühnen waren die Währungen. Also trug ich bald zwei Geldbörsen, eine mit Ost-, eine mit Westgeld bei mir. In der Schultasche schleppte ich andere Symbole mit mir herum. Tennissöckchen für den Besuch bei der Großmutter am Schlachtensee im Sommer. Tennissöckchen und weiße Shorts trugen viele Kinder dort. In den wärmeren Jahreszeiten zog ich mich im Gebüsch um, im Winter in Hausfluren, damit ich am Ort, den ich aufsuchte, aussah wie eine Einheimische. Wenn ich nach Ostberlin fuhr und es auf meinen Faltenrock ankam, holte ich ihn aus der Tiefe meines Turnbeutels und wechselte das Kostüm für den Aufenthalt bei den Eltern auf der Bühne Ostberlin.
Ost und West zu wechseln, wie man innerhalb einer Wohnung die Zimmer wechselt, mit der Selbstverständlichkeit, über die zu reden sich eigentlich nicht lohnt, weil sie zum Alltag gehört, wie Aufstehen und zur Schule gehen, das habe ich als Kind geübt: Mit Leichtigkeit von einem System ins andere zu kommen.
Das System wie ein Zimmer zu wechseln, in dem ein anderes Musikstück in einem anderen Tonsystem gespielt werden muß, hat mein Abstraktionsvermögen frühzeitig entwickelt, hat den Sinn für kontrapunktische Zuspitzungen und deren mögliche Auflösung geschult. Auch deshalb hatte ich wohl ein frühreifes Interesse für den Kontrapunkt als Kompositionsprinzip und liebte Bachs “Kunst der Fuge”.
Wie ich ohne mein Klavier den kalten und den heißen Krieg in Berlin überstanden hätte, weiß ich nicht, erfand ich doch zu meinem geteilten Leben in der Frontstadt ein