Im Historischen Museum interessierte mich vor allem der Saal, in dem ein Faksimile der ersten Erwähnung Estlands ausgestellt war. Es handelte sich um eine Manuskriptseite aus dem Reisebericht des arabischen Geographen Al-Idrisi, der seinem Monarchen, dem Normannenherrscher Roger II. von Sizilien, im 11. Jahrhundert von einem "Astalanda", einem östlichen Land, berichtet hatte. Aus Astalanda wurde Estland, ein kleines Land östlich von Deutschland, dessen Bewohner im Laufe ihrer Geschichte wenig zu lachen hatten. Kanonenkugeln aus der Zeit Iwans des Schrecklichen, schwedische Uniformröcke, Helme, Rüstungen, Waffen, die puppenhafte Nachbildung eines grimmig dreinblickenden Wandermönches und eines Henkers, der in Originalgröße mit seiner Axt Maß an dem Nacken des Delinquenten nahm, waren die anschaulich präsentierten Elemente einer jahrhundertelangen Horrorgeschichte.
Endete das Historische Museum mit dem 18. und 19. Jahrhundert, wurde im "Stadtmuseum" auch die neuere Geschichte Tallinns behandelt. Das berühmteste Exponat dieses Museums war die doppelte Wand des Kommunismus, ein Gebilde, das auf einer vorderen Wand die Propaganda der Sowjetzeit visualisierte, während auf einer zweiten Wand, die man durch Fortschieben der ersten Wand sichtbar machen konnte, die wahren Verhältnisse der kommunistischen Epoche dargestellt waren. Enthusiastisches Grinsen korrupter Bonzen unter Parteitagsparolen auf der ersten, Leid und Schmerz in den durchfurchten Gesichter der Opfer auf der zweiten Wand, schicke Wohnungen mit Balkonen vorne, Gulags im Hintergrund - Sein und Schein im direkten Vergleich.
Für die Esten war die Heimsuchung durch den Bolschewismus nur eine der vielen Plagen, die sie im Laufe der Geschichte zu ertragen hatten. Sonderlich heiter ging es aber auch in vorkommunistischen Zeiten nicht zu, wie der kuriose "Kieck in de Köck" Turm dokumentierte. Von den Aussichtspunkten dieses Turmes schauten die Stadtwächter im 16. und 17. Jahrhundert den Leuten in die Fenster und die Küchentöpfe, um festzustellen, ob es nicht verbotenerweise am Freitag Fleisch oder am Wochenende Feuer im Herd gäbe. Auf heutige Verhältnisse übertragen, wäre das etwa so, als würden ökologisch orientierte Regierungen Ökowarte ausschicken, um die Einkaufswagen der Supermarktkunden auf den politisch korrekten Einkauf hin zu kontrollieren.
Am Nachmittag, in der Stunde des besten Lichtes, erreichte ich nicht weit von der Alexander Newski Kathedrale am Südende des Trompea Hügels den schönsten Aussichtspunkt der Stadt. Dunkle Wolken hatten sich über die Bucht von Tallinn gelegt, in der Ferne schimmerte das Wasser des finnischen Golfs in einem bedrohlichen Schwarz. Hier und da glitt ein Sonnenstrahl durch die zerfetzten Wolkenberge und beleuchtete wie eine wandernde Kompassnadel die Details eines Schieferdachs, einer Turmwand, eines Häusergiebels.
Für einen Moment imaginierte ich, die unübersehbare Neustadt mit ihren 400.000 Einwohnern im Osten sei verschwunden, ich sähe nur das von den Dänen im 13. Jahrhundert gegründete Tallinn, die "Stadt der Dänen" vor mir, neben der dann Reval entstand, der von deutschen Händlern gegründete Handelsstützpunkt an den Grenzen des Reiches von Nowgorod. Aus beiden war eine Hansestadt mit freien Bürgern und Händlern entstanden, eine multinationale Enklave am Rande Europas, die mit den Esten auf dem Lande nur wenig gemein hatte. Ansatzweise zusammengeschweißt wurden Stadt und Land erst durch die Überfälle der Schweden und Russen, in deren Reich Estland nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges im Jahre 1725 scheinbar für immer verschwand.
Ich saß schon eine Weile auf der Aussichtsplattform, da setzten sich zwei junge Männer neben mich. Ich weiß nicht, ob es Russen oder Esten waren, auf jeden Fall begannen sie sofort zu trinken, zu rauchen oder in die Tiefe zu spucken. Ihre Gesichter waren leer, ihre Stimmen rau, ihre Gesten abgehackt. Für die Schönheit des Ortes besaßen sie kein Sensorium, stattdessen begannen sie mit zunehmendem Alkoholgenuss zu grölen und zu gestikulieren. Als sie mich anrempelten, mehr aus Ungeschicklichkeit, denn aus Absicht, machte mich auf den Heimweg.
Unterwegs traf ich Stefan, der mit einem fetten jungen Mann in einem Straßencafé auf dem Marktplatz bei einem Bier saß und diskutierte. Ich setzte mich dazu und erkannte bald, dass sich das Gespräch um die baltischen Frauen drehte, da sich Stefans Erwartungen speziell an die estnischen Frauen auch an diesem Tag noch nicht erfüllt hatten. Zu "nuttig" waren sie ihm vorgekommen, aufgedonnert, hochhackig, kess - von anbiedernder Unterwürfigkeit leider keine Spur. Stefans Gesprächspartner, Michael, ein Architekturstudent aus Regensburg, der sich wegen einer städtebaulichen Diplomarbeit in Tallinn aufhielt, wollte das nicht bestätigen. Seiner Ansicht nach sei die estnische Frau sehr schön, sehr kühl, aber emotional seltsam fad, meinte er, wobei er geschmäcklerisch seinen kleinen Mund schürzte, als hätte er von dieser Fadheit schon öfter kosten müssen. Ich konnte weder das eine noch das andere kommentieren, dachte einen Moment an den Anblick der züchtigen jungen Frauen in der Dominikanerkirche, trank ein zweites Bier, wurde müde und ging bei Einbruch der Dunkelheit zurück zum Vana Tom.
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Woran erkennt man Länder, die spät in die Moderne gestartet sind? Daran, dass sie kein Festnetz besitzen, sondern ihre Kommunikation mit dem Handy abwickeln. Aber auch daran, dass sie über kein leistungsfähiges Eisenbahnnetz verfügen, sondern den Personentransport vorwiegend über Busse organisieren, jene guten alten Busse, mit denen wir als Kinder wie in einem zweiten Wohnzimmer durch die Landschaft gefahren waren, bis wir in unsere eigenen Fahrzeuge, den ICE oder das Flugzeug umstiegen.
Im Baltikum ist der Bus natürlich das Verkehrsmittel Nummer eins. Er ist billig, effektiv und bei der (noch) geringen Verkehrsdichte relativ schnell. Seine Fahrer stellen das Konzentrat jener Industriearbeiterelite dar, die es entweder noch nicht oder nicht mehr gibt. Wie die Kapitäne der Landstraße steuern die ihr Gefährt durch Tag und Nacht, Regen und Sturm ihren Zielen entgegen. So auch in Tallinn, wo wir auf dem Busbahnhof der Stadt einen ausrangierten deutschen Bus bestiegen, der sicher schon bessere Tage gesehen hatte, seinen Dienst aber noch immer tadellos versah. Ohne dass weiter darüber gesprochen worden wäre, hatte auch Stefan ein Busticket nach Tartu gelöst. Ich musste mich wohl damit abfinden, dass er mich so lange begleiten würde, bis er die passende baltische Frau gefunden hätte.
Die Busreise nach Tartu war ebenso unspektakulär wie die Landschaft. Wir durchfuhren endlos flache Ebenen, Meere von Wiesen, Weizen- und Rapsfeldern, Waldinseln und Weideflächen, überquerten Flüsse und Bäche auf schmalen Brücken, brausten durch weltvergessene Dörfer ohne anzuhalten, erhaschten hier und da den erstaunten Blick eines Kindes, das am Wegesrand mit einem Gummireifen spielte.
Dann war plötzlich Tartu, das alte Dorpat, erreicht, das intellektuelle Zentrum des Landes mit der ältesten Universität Estlands, die ihren Ursprung bis auf das Jahr 1632 zurückführte. Es war eine regelrechte Postkartenstadt, die mit ihrer klassizistischen restaurierten Altstadt und einer durchgrünten Promenade am Ufer der Emajogi Flusses Mitteleuropa entsprungen schien. Wieder versuchte ich die Atmosphäre zu erspüren: War das hier Osteuropa? Ganz bestimmt nicht. In Tartu sah es eher aus wie in Marburg. Studenten lümmelten sich auf den Brückengeländern, die Dozenten lasen Manuskripte in den Cafés, und ein ganzer Papierwald von Plakaten informierte über die Musikszene der Stadt. Für jeden, der sich in Tartu länger aufhalten oder an diesem Ort ein Studiensemester einlegen wollte, hielt die Stadt Galerien, Ausstellungen und Museen bereit, und wer nicht gerade eine Vernissage besuchte oder eine Vorlesung hörte, lag mit einem Buch auf einer der zahlreichen Wiesen im Schatten der Bäume. Auenland am Rande Mordors, ging es mir durch den Kopf, als ich die zahlreichen Skulpturen sah, die die Stadtverwaltung an allen Ecken Tartus positioniert hatte: Meeresjungfrauen, Liebende, die sich als Paare über einem Springbrunnen umarmen, Gelehrte in Denkerpose, Kleinkinder in Erwachsenengröße - es war, als sollte nur eine Busstunde von der russischen Grenze entfernt, eine Idylle beschworen werden, von der jedermann ahnte, wie brüchig sie war.
Denn die idyllischen Außenansichten, die Estland in Tartu und anderswo so ostentativ präsentierte, konnten die Schattenseite des Landes nicht vergessen machen. Und der Schatten, der über Estland lag, hieß Russland. Um dieses Problem in seiner ganzen Bedrohlichkeit zu verstehen, genügte ein einziger Blick auf die demographischen Daten des Landes. Von Narva im Norden bis Petsen im