Mama ahnte, dass bei dieser Form des generationenübergreifenden Know-how-Transfers wohl öfters nicht alles ganz koscher war. Aber Opa, mit seinem gesunden Seniorenverstand und seinen "Da muss man eben durch" und "Du musst nur wollen" Sprüchen schon immer am Puls der Zeit, gelang es jedes Mal sie wieder zu beruhigen. Am Telefon überhörte ich den Spiritus Rector des Zimmermann-Rudels öfters wie er von "oberhessischer Leitkultur" und "ganz anständigen Kerlen” sprach und er schließlich auch ein Auge auf mich habe.
"Alles in Erdnussbutter!"
Das war natürlich eine glatte Lüge. Wahrscheinlich waren es gerade seine Beschwichtigungen, die ihr am meisten Sorgen machten.
Die praktizierte Lebensweisheit des stolzen Oberhessen "Menschen ohne Dialekt sind arme Menschen" machte auch vor seinem Enkel nicht halt. Englisch, Französisch, Italienisch, später dann noch Portugiesisch und Spanisch, im beschaulichen Provinznest im hessischen Nirgendwo beeindruckte das kein Schwein. Dazu gehörte man erst, wenn man die Sprache der Eingeborenen sprach. Und so ist das heute noch.
Opa Herbert ist, und da kann ich mich der Diagnose meines Freundes Klaus nur anschließen, eine Granate. Und was für eine. So sieht der Koloss das auch selbst: "Ein Kind des Vulkans, gemeißelt aus Basalt”.
Er redet viel, wenn der Tag lang ist und in Stockfeld sind die Tage sehr lang.
Vor ein paar Jahren hatte ich mich mit dem harten Kern des FC Glasvoll Rangers und einem gemieteten Minibus zur Frankfurter Commerzbank Arena aufgemacht. Der Anlass war kein geringerer als il classico Germania – Italia. Natürlich hatte ich auch eine Karte für den Herbertinator, schließlich war es ja ein Heimspiel für ihn. Kurz vorher musste er jedoch noch absagen.
"Kurzschluss im Magen”.
Wahrscheinlich kämpfte das Vogelsberger Naturphänomen mit Cola und Salzbrezeln wieder einmal gegen seinen Durchfall.
Aber ich hatte ihm versprechen müssen mit der Truppe vor unserer Rückreise nach Berlin noch einmal in der mitteleuropäischen Erlebnisregion vorbeizuschauen.
"Kein Ding, oder?"
Kein Ding.
Bei den Jungs hielt sich die Begeisterung über den Abstecher in den idyllischen hessischen Sehnsuchtsort in sehr engen Grenzen. Statt Sachsenhausen und Kaiserstraße stand nun ricevimento dalla famiglia Zimmermann/Stockfeld auf dem Programmzettel.
"Hessisch Sibirien! Na herzlichen Glückwunsch auch Francesco!”
So richtig zu widersprechen traute sich dennoch niemand, da ich den Trip organisiert hatte und der Motor bei den Planungen gewesen war.
Trotz aller Terminengpässe reichte es am Tag nach dem Spiel doch noch zu einer kleinen Spritztour in die Frankfurter Altstadt. Meine ständigen Warnungen, dass die Stockfelder Trinkkultur auch noch einiges zu bieten hat und dort noch niemand verdurstet sei, stießen auf taube Ohren. Als wir uns am späten Nachmittag Richtung Norden aufmachten, war die Stimmung eigentlich schon am Siedepunkt und kaum noch zu toppen. Der Apfelwein hatte ganze Arbeit geleistet.
Mir war von Anfang an klar, dass der passionierte HR4-Hörer mit dem X-Faktor sich nicht lumpen lassen würde und mich und meine Kumpels nicht nur mit seinem selbst gemachten Apfelsaft beglücken würde.
Da ich den Minibus steuerte, eine Bedingung für den Boxenstopp in der ländlichen Enklave, kann ich mich auch heute noch sehr gut an die Stunden nach unserer Ankunft erinnern. Bereits während der Fahrt rief mich der Alleswisser, der seinen Spitznamen "Google" mit stolz trägt, ständig auf meinem Handy an und wollte genau über unseren aktuellen Standort informiert werden. Da ahnte ich noch nichts.
Doch das änderte sich schlagartig, als er mich bei einem seiner letzten Anrufe, wir hatten gerade die Autobahn verlassen und das Panorama der Mittelgebirgslandschaft lag vor uns, eher beiläufig fragte, ob er mir schon erzählt habe, dass auch Alessandro und Luigi bereits in Stockfeld seien und sie sich riesig freuen würden, mich, den piccolo italiano, nach so vielen Jahren wieder einmal zu sehen. Sie wären gestern auch beim Spiel gewesen und hätten sich spontan entschieden, noch einen kleinen Abstecher in das dolle Dorf im Vogelsberg zu machen.
Die Kombination Alessandro, Luigi, Opa und das Wörtchen "spontan” ließ mich für einen kleinen Moment zusammenzucken und mit den Handballen auf das Lenkrad schlagen. Hierzu muss man wissen, dass wann immer unser Großvater das Wort "spontan” in den Mund nimmt im Familien- und Bekanntenkreis alle Alarmanlagen schrillen.
Spontan ist eigentlich kaum etwas bei ihm. Mit spontan beschreibt er gewisse Zusammenhänge von Ereignissen, von denen er weiß, dass sie in seinem Umfeld sehr wahrscheinlich nicht mit der gleichen Begeisterung aufgenommen werden, wie er sich das wünschen würde. Spontan soll eine gewisse Schicksalshaftigkeit suggerieren, auf die er natürlich auch keinen Einfluss nehmen kann.
Unterschwellig ist damit die Aufforderung verbunden, Verständnis zu zeigen und ihn für die Konsequenzen seiner wunderlichen Einfälle nicht verantwortlich zu machen. Im Zweifel ist er, das große Kind, Opfer der anderen. Er, die ehrliche Haut, der Meister des Unberechenbaren, kann nichts dafür, wenn etwas schief geht.
Die inoffizielle Familienchronik der Zimmermanns ist voll mit haarsträubenden Schnellschüssen, überhaupt nicht lustigen Scherzeinlagen und originellen Gedankenexperimenten des sprühenden und quicklebendigen Seniors, die meistens irgendwie spontan und nicht selten in einem Moment der Übernachtung beginnen und dann sehr schnell nach hinten losgehen und einen eher suboptimalen Ausgang nehmen.
Ein Blick in meinen Rückspiegel reichte aus, um mir schlagartig bewusst zu machen, welches Potenzial sich den spontanen Schnapsideen und Hirngespinsten des rüstigen Basalt-Brockens an diesem Abend bot. Ich sollte nicht enttäuscht werden.
"Jibb Jummi Francesco!”
Herbert F. Zimmermann, den Franz lässt er vor allem bei Europa- und Weltmeisterschaften raushängen, war natürlich nicht nur mein Opa. Er war mehr, viel mehr. Was er sonst noch war, verstand ich erst an seinem 60. Geburtstag so richtig. Eine Feier wie beim Baumarkt-Jubiläum.
Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Sport-und Mehrzweckhalle und der dazugehörige Parkplatz dienten als riesige Partyzone, zu der auch zahlreiche Honoratioren von außerhalb ihren Weg gefunden hatten. Die Heerschar der Gratulanten wollte kein Ende nehmen.
Der inbrünstige Mettbrötchen-Esser war unter anderem seit fast 20 Jahren Vorsitzender des Turn- und Sportvereins. Nach seiner aktiven Karriere als Fußballer, Leichtathlet (100 Meter Bestzeit 11.2 Sekunden, handgestoppt und noch heute Vereinsrekord!) und Turner (mehrmaliger Gau- und einmaliger Hessenmeister) scheuchte er als Trainer die TSV-Kicker über die Waldwege des Vogelsberges, bis man ihn davon überzeugt hatte, nicht mehr die Hütchen aufzustellen sondern