Nach Hochzeit und Flitterwochen ging es wieder zurück in die Metropole Mittelhessens. Mit Mamas Wechsel zum Amt endete dann kurze Zeit später die Phase Jung-verliebt-knapp-bei-Kasse. Das interkulturelle Familienensemble zog nach Bonn. Am Brandenburger Tor hingen noch Hammer und Sichel.
Nach dem Tapetenwechsel, der bereits mit Chiara stattfand, spielte Papa den Hausmann und es lief viel besser als alle Experten prophezeit hatten. Seinen Beruf schien er nicht wirklich zu vermissen. Dies hatte sicherlich auch mit seinen Hobbys zu tun, die ihn neben der Hausarbeit und der Kinderbetreuung voll auslasteten.
Zu seinen großen Leidenschaften zählten das Pianospielen, Kochen und natürlich Fußball. Ich erinnere mich an zahllose klassische Konzerte, zu denen sich die gesamte Familie rausputzte und Papa uns schon Tage vorher mit ständiger Beschallung in Stimmung brachte. Es war natürlich auch kein Zufall, dass Chiara und ich bereits im Vorschulalter mit dem Piano in Tuchfühlung kamen.
Seine Begeisterung fürs Kochen prädestinierte ihn für die Rolle des Hauswirtschaftlers und die Karrierefrau vergaß nie, ihn und seine Zaubereien zu loben, auch wenn es nur ein paar Spaghetti al vole waren. Wie er die Spaghetti nahm und sie wie Mikadostäbchen in das kochende Wasser fallen ließ, war eine Zeremonie. Es schmeckte nie langweilig.
Nicht ganz so einfach war es, seine Liebe zum Fußball mit unserem komplizierten Familienleben zu verbinden. Aber irgendwie schaffte er es immer, sich seine Freiräume zu schaffen. In welche Stadt wir auch immer gerade umgezogen waren, man konnte sich darauf verlassen, dass Papa ruck-zuck wusste, wo es die besten Pizzen in der Stadt gab, wo er seinen Corriere della Sera sowie die La Gazzetto dello Sport herbekam und dass er eine Squadra zum Kicken gefunden hatte.
Aber Fußball war für ihn mehr als Kicken. Es konnte schon einmal passieren, dass er den Hochzeitstag vergaß. Den 11 luglio zu vergessen, war dagegen ausgeschlossen. Egal auf welchen Wochentag der 11. Juli fiel und an welchem Ort wir gerade lebten, gegen 18.00 Uhr saß Papa mit einer Schar Tifosi vorm Fernseher und alle konnten sich darauf verlassen, dass eine riesen Schüssel seiner berühmten Cannelloni Ricotta e Spinaci mitten auf dem kleinen Wohnzimmertisch steht, zwei Flaschen Limoncello sowie zwei Kästen Bier im Kühlschrank zwischengelagert sind und die VHS-Kassette (später die DVD) mit der Aufschrift Madrid mondiale di calcio finale 1982 zum Anpfiff bereit liegt.
Angefeuert von der Stimme des Spielkommentators wurde in den nächsten Stunden gegessen, getrunken, palavert und unaufhörlich gestikuliert, so wie das nur Italiener können.
Ich mochte diese Abende.
Zoff, Baresi, Conti … es gab eine Zeit, da konnte (musste) ich alle Namen im Schlaf aufsagen. Ja, und dann war da noch der Spieler mit der Nummer 20. Hätte ich noch einen kleinen Bruder bekommen, hätte er sehr wahrscheinlich Paolo gehießen wie der italienische Fußballgott Paolo Rossi. Nicht nur dass Papa im Arbeitszimmer ein eingerahmtes Trikot mit Bild und Unterschrift des Turiners an der Wand hängen hatte, nein, auch zu jedem Training trug er ein frisch gebügeltes, azurblaues Trikot mit den Koordinaten des WM-Torschützenkönigs von 1982.
Einmal, ich glaube es war in Singapur, waren Opa Herbert und Oma Gisela zu Besuch und Papas Feiertag stand an. Der Schwiegervater, der kurz vorher beim Bundesliga-Gewinnspiel des Kicker unter die ersten Zwanzig gekommen war, fing schon frühmorgens damit an, den Italiener mit seinen fachmännischen Kommentaren aufzuziehen.
"Ist der Rummenigge hundert Prozent fit, läuft das Spiel anders, ganz anders” oder "… Schiedsrichter aus Brasilien, konnte ja nicht gut gehen …"
Obwohl die Familie Zimmermann-Piero immer wieder im Zentrum leidenschaftlicher fußballkultureller Debatten steht und die Emotionen oft allzu hoch gehen, ließ sich Papa nicht aus der Ruhe bringen. Das merkte sogar irgendwann das Unikat aus dem VB, das dann am Abend auch kein Problem damit hatte, während des Spiels die logistischen Aufgaben (Kühlschrank hin und zurück) für den asiatischen Ableger der Squadra azzurra zu übernehmen.
In der 2. Halbzeit als die Stimmung besser und besser wurde, baute der Familienmensch mehr und mehr ab. Es reichte aber noch zu einzelnen Forza Italia! und Salute! Zwischenrufen.
Nach dem 3 : 0 gab er sich ganz zahm und war bereit für die ultimative Tapferkeitsauszeichnung: Mit Filzstift und viel Liebe durfte ich ihm die Trikolore mit den drei senkrechten Streifen in Grün, Weiß und Rot auf Wangen und Stirn malen. Er hatte sein Pulver verschossen und war am Ende mit seinem Italienisch. Dies kam selten genug vor. Ich musste dem müden Krieger versprechen, niemandem in Stockfeld von diesem Bella Italia-Abend zu erzählen.
Papas Spitzname "Il Biondo” kommt von seiner für einen Italiener eher unüblichen Haarpracht. Ich erinnere mich noch, wie er schon früher einen kleinen Zopf trug und viel Arbeit und Zeit in seine Haarpflege steckte. Mama dagegen ist pechschwarz und wirkt heute noch auf den ersten Blick viel italienischer als ihr Gatte.
Ähnlich wie Papa in Stockfeld war Mamma in Pisa mit offenen Armen in die Familie aufgenommen worden. Nonna Emilia und ihre beiden Töchter hatten schnell festgestellt, dass la dottoressa, trotz falscher Konfession, die Richtige für il suo piccolo principe Giuliano war, dessen Abnabelungsprozess sich etwas in die Länge gezogen hatte.
Denn obwohl schon Ende 20 wohnte das italienische Nesthäkchen mit der Schwäche für südländische Haut Couture immer noch ganz offensiv zu Hause und so stand Mama während ihrer ersten Besuche unter ständiger Beobachtung. Nonna Emilia richtete ihr auch immer ein eigenes Zimmer für die Übernachtungen.
Ihre Mutter hatte bei dem ersten Besuch des Italieners in Stockfeld eine ähnliche Taktik eingeschlagen, allerdings ohne den gewünschten Erfolg. Mit der Feststellung "Wir sind hier nicht in Italien”, hatte ihre empörte Tochter, so erzählt es Oma, den Diskussionsprozess deutlich abgekürzt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie sich auch auf diesem Gebiet keinerlei Illusionen mehr hingeben musste.
Auch meiner Schwester und mir war schon früh aufgefallen, dass in Pisa die Uhren etwas anders tickten als in Stockfeld.
Nonno Dino hatte eine kleine Schreinerwerkstatt und war eigentlich den ganzen Tag nicht zu sehen. In der Wohnung, die direkt neben der Werkstatt lag, duftete es von früh bis spät nach Holzleim und Sägespänen.
Chiara und ich verbrachten unsere Ferien oft entweder im Vorderen Vogelsberg oder in Pisa. Nicht selten waren wir in den Ferien auch an beiden Orten. Ein Leben zwischen Kartoffelsalat und Spaghetti. Egal wo wir uns aufhielten, wir konnten uns darauf verlassen, dass Großeltern, Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen wieder ein riesen Programm für uns auf die Beine gestellt hatten und immer etwas los war.
Später als wir selber entscheiden konnten, zog es Chiara dann mehr in das Land, "wo die Zitronen blühn" (genau, der Frankfurter Bub Johann Wolfgang von G. wusste das schon) während ich eher zum hessischen Jodwede tendierte.
Trotz aller Unterschiede in den beiden Familien, eines ist gleich. Sowohl bei Oma Gisela als auch bei nonna Emilia laufen alle Fäden zusammen. Mit ihrer genügsamen Philosophie von Bescheidenheit, Großzügigkeit und gesundem Menschenverstand geben die beiden Galionsfiguren heute noch den Rhythmus vor und drücken den Sippen ihren großmütterlichen Stempel auf.
Meine Präferenz für Stockfeld hatte weniger mit meiner Konfession zu tun. Eher schon etwas mit meinem Cousin. Roland war ähnlich fußballverrückt wie ich und zusammen mit seinen Freunden, die nach und nach auch meine wurden, waren wir während meiner Ferienaufenthalte von morgens bis abends auf Achse und eiferten unseren großen Vorbildern nach.
Auch später, als das Kicken nicht mehr ganz so wichtig war, wurde es uns beim Ausleben unserer pubertären Fantasien nie wirklich langweilig. Unvergessen bleiben die ersten Foxtrottschritte und die guten Nacktgeschichten im Freibad, zu denen wir uns immer die Nachwuchs-Nixen vom Campingplatz einluden. Auch der Besuch zahlreicher Discoabende bei Feuerwehr-, Sport- oder Heimatfesten, auf denen es heckehoch herging, lehrte mich so manches, das ich nicht missen möchte.
Stockfeld, das