Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung. Eva Eichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Eichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658207
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ein leiser Schreckensschrei, weil er das Gefühl hatte, irgendetwas sei durch ihn hindurch geglitten.

      „Hey Bobby“, hörte er die Stimme von William, einem der Wachleute auf der naheliegenden Plattform über Funk. „Genießt du etwa das Wetter, oder wieso stehst du da auf der Schwelle rum?“

      Bobbys Finger tasteten zitternd nach dem Funkgerät. Ungeschickt zerrte er es aus der Gürteltasche und ließ es fallen. Als er sich bückte, blieb der Totmannmelder an seinem Oberschenkel hängen und geriet in die Waagerechte. Fast zeitgleich schrillte in der Zentrale und an den Funkgeräten der anderen ein durchdringendes Warnsignal los. Bobby kniff die Augen zusammen und fluchte.

      „Alles in Ordnung“, hörte er William wieder über Funk. „Ich seh‘ ihn.“

      „Was ist passiert?“ Charles Stimme klang genervt.

      Bobby riss sein Funkgerät an sich und drückte eilig den Knopf. Er wollte William den Triumph nicht gönnen, sich über ihn lustig zu machen.

      „Entschuldigung“, meldete er sich hastig. „Eiskalte Finger. Hab das Funkgerät fallen lassen, und als ich es aufheben wollte, ist der Melder losgegangen.“

      Es dauerte einen Moment, bis sich Charles wieder hören ließ. „Okay. Pass in Zukunft etwas besser auf. … William! Funkdisziplin halten!“

      Bobby ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Vor ihm erstreckte sich ein langer Gang mit weißen Kunststoffwänden und grau marmoriertem Linoleumboden, der durch die nächtliche Notbeleuchtung, in unwirkliches Licht getaucht wurde. Bobby würde es den Männern gegenüber niemals zugeben, doch er hasste diesen Gang. Die Totenstille, die hier nachts herrschte, die Beleuchtung, die seinen eigenen Schatten in unzählige Riesen verwandelte, und die vielen Türen, die ihn an den Film Poltergeist erinnerten, den er vor einigen Jahren bei seinem Onkel gesehen hatte: Dieser kurze Flur, der sich immer weiter in die Länge zog, während die Mutter von Sue Ann verzweifelt versuchte, die letzte Tür zu erreichen.

      Bobby drückte gewohnheitsmäßig die Türklinken rechts und links, während er den Gang durchschritt. In der Mitte war die erste Station an der Wand befestigt. Er hielt kurz sein Lesegerät dagegen, wartete auf das kurze Piepen und setzte seinen Weg fort. Die letzte Tür führte ihn ins Treppenhaus und damit in die obere Etage, wo sich die Büros der Kittelträger, wie Charles die Wissenschaftler nannte, befanden. Bobby ging die gefliesten Stufen hinauf und stutzte. Einen Augenblick dachte er, sich zu irren, aber dann hörte er es wieder: Irgendjemand sang!

      Bobby verdrehte die Augen. Heute Nacht wollten sich wohl alle über ihn lustig machen. Aber diesmal würde er sich das nicht bieten lassen. Ruhig erklomm er die Stufen und öffnete die Tür zu den Büroräumen. Der Gang hier glich dem in der unteren Etage, nur dass der Boden mit grünem Kunstfaserteppich ausgelegt war. Eine der hinteren Türen war nur angelehnt. Das bläulich flackernde Licht eines Computers strömte von dort in den Gang.

      „I put it in my pocket and I took it home to Jenny“, drang eine etwas krächzende leise Stimme an sein Ohr. “She sighed and she swore that she never would deceive me”, sang die Stimme weiter. Bobby verzog das Gesicht und blieb stehen. Was hatten sie wohl jetzt wieder ausgeheckt? Wollte man ihn mit einem kindischen „Buh!“ erschrecken oder würde ein Wassereimer auf der Türkante auf ihn warten? Er hielt alles für möglich. Aber er hatte nicht vor, in die Falle zu gehen. Kurzentschlossen griff er nach dem Funkgerät und drückte den Knopf.

      „Sehr witzig, Jungs“, meldete er sich, „wirklich, sehr witzig.“

      Der Funk schwieg eine Weile, und Bobby nutzte die Zeit, um sich weiter vorzuarbeiten.

      „Wack fall the daddy-o, wack fall the daddy-o. There’s whiskey in the jar.”

      Bobby hatte die Tür erreicht. Auf dem Namensschild stand: Dr. Clark.

      „Was ist los, Bobby“, erkundigte sich Charles just in diesem Augenblick über Funk.

      Augenblicklich wurde es still in dem Zimmer. Das bläuliche Licht hinter der Tür erlosch und Bobby war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, ob wirklich ein Kollege hinter der Tür auf ihn wartete.

      „Bobby?“, dröhnte Charles Stimme aus dem Funkgerät.

      Bobbys Finger schlossen sich fester um den Griff des Lesegeräts. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf. Hinter dem luxuriösen Schreibtisch zeichnete sich die Silhouette eines Mannes ab.

      „Keine Bewegung!“, brüllte Bobby dem Mann entgegen.

      „Wie denn?“, fragte eine helle, etwas heisere Stimme.

      „Was ist denn daran nicht zu verstehen?“, wollte Bobby irritiert wissen.

      „Wenn ich mich nicht mehr bewegen soll, muss ich auch den Atem anhalten und irgendwann umkippen“, entgegnete der Einbrecher frech. „Vielleicht solltest du es mit Hände hoch und keinen Schritt weiter! versuchen.“

      Bobby schüttelte verwirrt den Kopf. „Okay, dann: Hände hoch und keinen Schritt weiter!“

      „Ich will aber nicht“, entgegnete der Einbrecher, stützte sich auf den Schreibtisch auf und sprang ab. Gerade als Bobby schon befürchtete, der Mann würde sich auf ihn stürzen, blieb dieser mit dem Fuß an der Tischkante hängen. Fluchend knallte er vor Bobby auf den Boden. Der Einbrecher blickte auf, und der junge Wachmann wurde einen kurzen Augenblick von dessen smaragdfarbenen Augen eingefangen. Es war wie ein kurzer Impuls, der in seinem Innern ausgelöst wurde, und Bobby schlug so fest er konnte mit dem Lesegerät zu. Der Einbrecher sackte in sich zusammen. Ein dünnes blutrotes Rinnsal sickerte aus der Platzwunde auf seiner Stirn.

      Bobby drückte triumphierend den Knopf des Funkgerätes.

      „Hier Bobby“, sagte er entschlossen. „Eindringling im Büro von Dr. Clark.“

      „William! Steven! Kümmert euch darum!“, befahl Charles unverzüglich und fügte in beinahe väterlichem Ton hinzu: „Halt dich erst mal zurück, Kleiner.“

      „Zu spät“, entgegnete Bobby triumphierend. „Hab ihn niedergeschlagen, als er flüchten wollte.“

      Der Funk schwieg, und Bobby blieb nichts anderes übrig, als auf William und Steven zu warten. Zeit, sich den ungebetenen Gast etwas genauer anzusehen. Er schaltete das Licht ein und ging neben dem Mann in die Hocke. Im Hellen betrachtet, erschien ihm der Typ noch verrückter als er zuvor angenommen hatte. Seine Gesichtszüge waren eindeutig europäisch, doch seine schwarzen Haare hatte er, wie die Chinesen in alten Kung- Fu- Filmen, zu einem langen Zopf geflochten. Aber das war nicht das einzige, was ihm kurios vorkam. Auch der optische Gesamteindruck war schon nahezu schmerzhaft: Ein himmelblaues Schnürhemd, braune Wildlederhosen und ausgelatschte neongelbe Converse-Turnschuhe.

      „Mann, du kriegst doch mit Sicherheit einmal am Tag eine auf die Fresse, wenn du dich so auf die Straße traust“, murmelte Bobby belustigt.

      Der Einbrecher antwortete nicht, sondern lag noch immer reglos am Boden. Bobby erhob sich wieder und sah seinen beiden Kollegen entgegen, die eben aus dem Treppenhaus in den Flur traten. Gespannt wartete er auf die anerkennenden Blicke und Bemerkungen, auf ein Schulterklopfen. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden schoben sich an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen. William überprüfte Atmung und Puls des Einbrechers, bevor er Steven zunickte und sie ihn rechts und links an den Oberarmen griffen und einfach den Flur hinunter schleiften. Bobby folgte ihnen in einigem Abstand. Er war sauer! Er hatte sich vollkommen unbewaffnet einem Einbrecher in den Weg gestellt und ihn bezwungen. Keiner schien sich dafür zu interessieren.

      Sie brachten den Einbrecher ins Treppenhaus und trugen ihn eine weitere Etage nach oben, wo Charles bereits auf sie wartete. Bobby war bisher noch nie hier gewesen, und mehr als einen Fahrstuhl schien es auch nicht zu geben. Charles legte seinen Daumen auf einen Scanner neben der Fahrstuhltür, die sich daraufhin zur Seite schob.

      „Musst du nicht deine Runde beenden, Kleiner?“ Es war mehr ein Befehl als eine Frage, und der junge Wachmann beobachtete empört, wie die drei mit