„Umständen?“
„Ich glaube nicht, dass die Explosion deinen Eltern galt.“
Die Erinnerung holte Steve wieder ein. Die Tasse in seiner Hand begann zu vibrieren, während er versuchte, Trauer und Wut hinunter zu schlucken. Ernest beugte sich vor und legte ihm sanft die Hand auf den Arm. Er konnte die Wärme durch seine Lederjacke hindurch spüren. Es dauerte nicht lange, bis sie sich in ihm ausgebreitet hatte, und ihn in einen Mantel aus Ruhe und Geborgenheit hüllte.
Steve starrte Ernest verwirrt an. „Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Ernest Bernstein.“
„Weiß ich bereits. Das meinte ich auch nicht.“
„Das muss dir leider erst einmal genügen. Ich weiß, es ist schwer, aber ich bitte dich, mir zu vertrauen. Du wirst deine Antworten bekommen. Aber noch nicht jetzt.“
Die Wirkung der kurzen Berührung ließ wieder nach.
„Und wo ist dieses Arschloch hin?“
„Wer?“ Ernest hob die Augenbrauen.
„Dieser aufgeblasene deutsche Snob?“
„Er telefoniert mit seinem Fahrer“, erwiderte der alte Mann ernst. „Und ich möchte dich bitten, etwas auf deine Wortwahl zu achten.“
Steve sprang auf.
„Wo willst du hin?“
„Er hat meine Eltern umgebracht! Bilden Sie sich ja nicht ein, dass ich ihn einfach abhauen lasse.“
„Du irrst dich.“
Steve öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Ernest hob nahezu gebieterisch die Hand. „Und abgesehen davon, dass du keine Chance hättest, ihm nahe genug zu kommen, ihn zu schlagen, was hättest du davon?“
Steve öffnete ein weiteres Mal den Mund und schloss ihn wieder, ohne irgendetwas zu sagen. Er erinnerte sich nur zu gut an das, was in der Limousine geschehen war. Auch wenn er es auf die Wirkung irgendwelcher Drogen schob, so hatte der Kerl doch etwas an sich, was ihn erschauern ließ.
Draußen knirschten die Räder der Limousine über den Kies. Die beiden schwiegen, bis sie hörten wie sich die Tür schloss und der Wagen den Hof wieder verließ.
„Wieso vertrauen sie ihm?“
Ernest antwortete nicht, sondern blickte gedankenversunken in seine Teetasse.
„Wieso vertrauen sie ihm?“, wiederholte Steve seine Frage etwas eindringlicher.
„Hoffnung“, flüsterte Ernest leise.
Ein irisches Lied
Cailbrook-Laboratorien, 2. September
„Und wie lange dauert’s“, wollte der einundzwanzigjährige Bobby Dugan wissen.
Charles Farren drehte sich mitsamt seinem ledernen Bürosesel zu dem Neuen in seiner Wachmannschaft um und zuckte mit den Schultern. „Kommt ganz darauf an“, entgegnete er gleichgültig. Er kannte solche Jungen wie Bobby noch aus seiner Zeit bei der Armee. Übereifrige, abenteuerlustige Typen, die sich schnell beweisen wollen.
Bobby wirkte ungeduldig. „Auf was?“
„Wie gut du bist“, antwortete Charles. „Und auf ein bisschen Glück“, fügte er grinsend hinzu.
Der Junge nickte als hätte er verstanden. „Aber wie lange dauert es so ungefähr. Also rein durchschnittlich?“
Charles lehnte sich mit einem Seufzen nach vorne und stützte die Ellenbogen auf den Knien ab. „Hör zu Junge: Mach einfach deine Runden und gut ist.“
Bobby verdrehte genervt die Augen. So hatte er sich seinen Job auf dem Gelände des Cailbrook Forschungszentrums nicht vorgestellt. Seit fast zwei Wochen ging er fünfmal in der Nacht von Gebäude zu Gebäude, rüttelte an Türen, die er selbst verschlossen hatte, kontrollierte Maschinen und Kühlaggregate, die auch ohne ihn ihre monotone Arbeit verrichteten, und setzte das elektronische Lesegerät bestimmt hundertmal bei den Kontrollstationen an. Eigentlich waren es nur acht Stationen pro Runde, doch er konnte dieses leise Piepen, das seine Anwesenheit aufzeichnete, einfach nicht mehr hören. Fast zwei Wochen, und nichts passierte. Noch nicht mal ein Fuchs oder Marder, der versuchte, durch den Zaun zu schlüpfen. Dabei hatte er direkt am ersten Tag ein erwartungsvolles, aufregendes Kribbeln gespürt, als er von Charles aus London mit hierher genommen worden war und beim Schichtwechsel all die Männer beobachten konnte, die sich die Holster umschnallten, Kevlarwesten anzogen, die Totmannmelder um den Hals hängten und die Funkgeräte einsteckten. Er kam sich vor, als wäre er mitten in einen amerikanischen Actionfilm geraten, in dem sich ein Spezialteam auf irgendeine gefährliche Mission vorbereitete.
Doch für Bobby gab es kein Holster, keine Waffe und keine Weste. Aber wenigstens eine wetterfeste Jacke mit der Aufschrift Security, ein Funkgerät und einen Totmannmelder, den auch er sich um den Hals hängen durfte. Als sie ihm das Lesegerät in die Hand drückten, hatte er im ersten Moment gedacht, es handle sich um einen Elektroschocker. Das grölende Gelächter tönte ihm noch heute in den Ohren.
Charles musterte das betretene Gesicht des Jungen. Er verstand genau, wie der Junge sich fühlte. Jeder in seinem Team war irgendwann einmal irgendwo der Grünschnabel gewesen, hatte auf große Heldentaten gehofft und sich bis auf die Knochen blamiert. Seiner Meinung nach sollte Bobby in London das Vertriebshaus oder den Bürokomplex bewachen und nicht die Laboratorien hier draußen. Seit fünfzehn Jahren arbeitete er nun schon für die Firma. Fünfzehn Jahre, die ihn an den Rand seines Verstandes gebracht hatten. Irgendwann fing jeder an, in dem Wald, der das Gelände umgab, Gespenster zu sehen. In all den Jahren hatte es über zwanzig Einbrüche gegeben. Hauptsächlich belanglose Vorfälle. Jugendliche, die auf der Suche nach einem Nervenkitzel waren. Doch es gab auch andere, die dazu geführt hatten, dass einer seiner Männer im Plastiksack abtransportiert wurde und einige andere in der Krankenabteilung landeten. Zwei von ihnen hatte er daraufhin nie wieder gesehen. Es hieß, sie wären nach dem Angriff an einen ruhigeren Ort versetzt worden.
Charles zwang seine Gedanken wieder ins Hier und Jetzt und wies mit einem Nicken auf die Uhr, die über der Tür der Überwachungszentrale hing.
„Wir reden nach deiner Runde weiter“, erklärte er großmütig und drehte seinen Sessel wieder in Richtung der unzähligen Monitore, die über dem Kontrolltisch angeordnet waren.
Bobby schnaubte missmutig, nahm die Chipkarte aus der Schublade und holte das Lesegerät aus der Ladestation.
„Mach die Jacke lieber zu, Junge“, murmelte Charles, als Bobby sich der Tür zuwandte. „Ist stürmisch heute Nacht.“
„Ja, Daddy“, gab dieser trotzig zurück und trat durch die dicke Stahltür nach draußen. Eisiger Wind fuhr ihm unter die Jacke und blähte sie weit auf. Eilig zog er den Reißverschluss bis zum Kinn nach oben, bevor er zwischen den wenigen Fahrzeugen, die allesamt dem Sicherheitspersonal gehörten, hindurch ging. Außer ihnen war niemand mehr hier. Sie waren alle zu Hause und genossen ihren Feierabend. Bobby warf einen kurzen Blick auf eine der überdachten Plattformen, die an den vier Eckpunkten des Geländes den Maschendrahtzaun überragten. In jeder anderen Nacht hätte er gerne mit seinen Arbeitskollegen getauscht. Heute war er zum ersten Mal froh, sich zwischen seinen Rundgängen in die geheizte Zentrale zurückziehen zu können. Er blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die pechschwarze Wand, die das Grundstück umgab. Der ganze Wald bewegte sich in wabernden Schatten mit dem Wind und schuf monströse Trugbilder, die sich in sein Unterbewusstsein fraßen. Bobby riss sich schaudernd los und setzte seinen Weg zum Bürogebäude fort.
Gerade als der Graupelschauer einsetzte, erreichte er die Tür, doch bevor er die Chipkarte durch das elektronische Schloss zog, kroch ihm ein eiskalter Schauer den Rücken hinauf. Es war als würde irgendjemand direkt hinter ihm stehen. Langsam drehte er sich um, doch er konnte weder zwischen den Fahrzeugen