O Jugend, o West-Berlin. Philip Meinhold . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philip Meinhold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844260274
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und die aufgesetzte Coolness nicht, das Englisch, die gute Laune und das Gebrüll.“ Ein letztes Mal wechseln wir die Lokalität, gehen in die Meuterei schräg gegenüber.

      An den Wänden hängen Plakate mit der Aufschrift „Stille Straße bleibt“ und „20 Jahre Rostock-Lichtenhagen“, aus den Boxen dringt Musik mit orientalischem Einschlag. Wir bestellen vier Fassbrause à 1,30 Euro. Wie schön, in einem so unprätentiösen, uncoolen Laden zu sitzen. Erleichtert atmen wir durch. Natürlich ist es toll, was man in Berlin alles erleben kann: von der Hardcore-Laden in die Schwulenbar, von der Hipsterhölle in die Politkaschemme – und das alles im Umkreis von zehn Minuten. Aber man kann sich auch vorkommen wie auf einer Interrail-Tour: Das Abteil heißt Kreuzberg, das Ziel Montagmorgen – und im Grunde ist den meisten ist es ziemlich egal, wo sie sind.

      (2012)

      Der Mann, der nie ein Dicker werden wollte

      Vor 30 Jahren erschien sein Album „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ – ein Klassiker der deutschen Popgeschichte. Später nannte sich Marius nur noch Westernhagen und tauschte die Lederjacke gegen Designeranzüge. In dieser Woche feiert er seinen 60. Geburtstag.

      Als ich zwölf war, schenkte mir mein Bruder eine selbst aufgenommene Kassette. Auf der einen Seite gab‘s das Abschiedskonzert der Punkband Slime, auf der anderen das Westernhagen-Album „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“. Eine Kombination, die für andere etwas merkwürdig anmuten mochte – doch für mich handelte es sich um Brüder im Geiste.

      Während Slime „All cops are bastards“ skandierten, sang Marius Müller-Westernhagen gegen Polizeiwillkür an; während Slime dem Oberpiraten Störtebecker huldigten, besang Marius den Hehlerkönig Willy Wucher. Und hieß es bei Slime unheilschwanger: „Es ist bei uns wieder mal so weit, nur ein kurzer Weg bis zum 4. Reich“, so warnte Marius – nur um Nuancen vorsichtiger: „Eines ist mir sonnenklar, falls wir glauben sollten, Terror kann man durch Terror bremsen, dann sind wir bald wieder so weit.“ Für mich handelte es sich jedenfalls nicht nur um zwei Seiten der selben Kassette, sondern auch der gleichen Medaille; es um Außenseiter und Ausgestoßene, ums Aufbegehren und um Authentizität.

      Zwar war „Pfefferminz“ bereits Westernhagens viertes Album, jedoch das erste mit unverwechselbar eigener Handschrift: Zehn knappe Songs, kein schwacher Titel, eine Platte wie aus einem Guss. Worum es ging, sagte im Grunde schon das Plattencover: Oben prangte der Name des Sängers in der Glück verheißenden Neonschrift eines Pornokinos, darunter eine Eckkneipe mit Trinkern, Nutten und zwielichtigen Typen, in der Mitte der dürre Hering Marius in Jeans und in Lederjacke. Sämtliche Figuren aus den Songs schienen hier versammelt: Margarethe, Willy, Klaus, Peter – Menschen, die von der Vergangenheit träumten oder der Zukunft; die sich nach der großen, weiten Welt sehnten und es doch nur bis in die Bahnhofsgaststätte schafften.

      Natürlich war das nicht meine Welt, die Welt eines Gymnasiasten aus Berlin-Wilmersdorf – aber es war eine Welt, die Echtheit und Freiheit verhieß, jenseits jeder spießbürgerlichen Moral. Ganz so, wie Marius es in „Ab 18“ versprach: „Ich möchte zurück auf die Straße, möcht‘ wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut. Denn Gold find‘ man bekanntlich im Dreck, und Straßen sind aus Dreck gebaut.“

      Als Alternative drohte ein Leben wie das von Klaus, dem das Arbeitsamt den Job ausgesucht hatte und die Eltern Sabine, und den ich nehmen und schütteln wollte, damit er sein Leben endlich in die Hand nahm. Das unverfrorene Stück „Dicke“ hörte ich weniger als Affront gegen Fettleibige, denn vielmehr als trotzigen Trost für einen schmächtigen Körper; und wenn Marius im fröhlich-anarchischen Titelstück proklamierte: „Glaubst du an den lieben Gott? Oder an Guevara? Ich glaube an die Deutsche Bank, denn die zahlt aus in bar“, dann ließ er damit sogar die Anarcho-Punks von Slime alt aussehen.

      Dabei war es nicht die Musik, die etwas Besonderes war (nicht mal beim Erscheinen der Platte anno 78): Marius röhrte, krähte und nölte sich durch straighte Rock ’n Roll-Nummern und erdigen Blues. Was neu und besonders war, war die Haltung: das Rotzige, Trotzige, Frische. Westernhagen war unverschämt unverstellt, er konnte einen Dicken als „fette Sau“ titulieren und das Wort „Neger“ singen, ohne dass man’s ihm krumm nahm. Und als er kurz darauf in „Theo gegen den Rest der Welt“ auch noch das Stehaufmännchen mit den Nehmerqualitäten gab, da hatte er dem Underdog endgültig ein Denkmal gesetzt. Eins war klar: Es gab nichts Cooleres, als ein Loser zu sein. Hauptsache, die Klappe war groß genug.

      Das Konzept der raubeinigen Rollensprache, das er auf der „Pfefferminz“ etabliert hatte, setzte Marius auch auf den folgenden beiden Platten „Sekt oder Selters“ und „Stinker“ fort. Er sang über Menschen, die Helga, Hilde oder Hermann hießen, ließ Zocker, Zuhälter und Kleinstadthelden zu Wort kommen, schlüpfte in die Rollen von frustrierten Ehemännern und Nutten. Seine Songs seien „voll vom Mief des Alltags“ schrieb die Süddeutsche Zeitung 1981.

      In den folgenden Jahren variierte der Sänger sein Genre in die verschiedensten Richtungen. Da war das schnelle, Ska-angehauchte „Herz eines Boxers“, die Balladensammlung „Lass uns Leben“, das unterkühlt-elektronische Album „Die Sonne so rot“. Und auch wenn Westernhagen erkennbar auf der Suche nach etwas Neuem war, im Kern blieb er doch der alte: der großmäulige Einzelkämpfer mit dem weichen Kern – und mein treuer Begleiter einer nicht enden wollenden Adoleszenz im Wilmersdorf der 1980er Jahre.

      Bis er 1987 schließlich die Platte „Westernhagen“ veröffentlichte und sich mit dem Doppelnamen auch seiner bodenständigen Vergangenheit zu entledigen schien. Einen „Fluch für den gereiften Singer/Songwriter“ nennt seine Homepage das Theo-Image, das an dem Sänger „trotz der verschiedensten Häutungen lange klebte wie Harz“.

      In den Neunzigern wurde er es los. Vorbei die Zeiten, in denen er trotzig gesungen hatte: „Und wenn ich auch nur Müller heiß, so bin ich doch am Leben.“ (Und was hieß das eigentlich im Umkehrschluss?)

      Westernhagen tauschte Jeans und Lederjacke gegen Armani-Anzüge – und die rüde Attitüde gegen glatte Platten. „Mit kleinen einfältigen Rockstückchen, schwerem R&B-Stampf und den sentimentalen Ausfällen seiner jazzseligen Bläsertruppe versöhnt Westernhagen auch Randbereiche des Massengeschmacks“, höhnte die Süddeutsche Zeitung. Auf einmal war alles mega: Megastar, Megatour, aber vor allem: Mega-Mainstream.

      Seine Alben gingen regelmäßig von null auf eins in die Charts. Als eine Art deutsche Ein-Mann-Ausgabe der Rolling Stones tourte er durch die Fußballstadien der Republik. Auf der Bühne schauspielerte er Ergriffenheit („Wahnsinn!“), zwischendrin führte er ein Tänzchen mit seiner Frau auf, einem amerikanischen Model. Seine neuen Freunde hießen Boris Becker und Thomas Gottschalk, er machte Wahlkampf für Gerhard Schröder, bekam das Bundesverdienstkreuz am Bande. Da saß er nun, war etabliert und scheinbar rundum zufrieden. Er habe sich ab einem bestimmten Punkt bewusst nicht volksnah gegeben, „um eine allzu starke Identifikation mit dem zu vermeiden, was nun mal nur Rollen, Posen, Verwandlungen sind“, belehrt seine Homepage die Unbelehrbaren wie mich. Nur – warum suchte sich einer stattdessen die Arschloch-Rolle?

      Zurück auf der Straße waren dafür andere: Während Westernhagens Aufstieg zum Superstar hatten 1990 auch Slime wieder angefangen, zusammen Musik zu machen – als Statement zur deutschen Einheit. Während Westernhagens „Freiheit“ zur nachträglichen Wendehymne avancierte, sangen Slime: „Deutschland – ein Land kotzt sich aus.“ Und während der Deutschrocker mit seinem Album „Affentheater“ die Stadien füllte, waren Slime mit ihrem Album „Schweineherbst“ unterwegs. 1994 löste sich die Punkband dann endgültig auf. „Alles schien so eingefahren“, begründete Drummer Stephan die Trennung. „Das war teilweise wie echte Rock-Show.“

      (2008)

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