O Jugend, o West-Berlin. Philip Meinhold . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Philip Meinhold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844260274
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wachte jeden Tag ein Berliner, der mit einem Schild um den Hals gegen diese Verschwendung von Steuergeldern demonstrierte. Ich lauschte den Diskussionen, die sich entsponnen, und dachte: Det is Berlin. Die Mitte der Welt. Und mitten in der Mitte: der Ku’damm. Irgendwas war hier immer los. Wenn man Glück hatte, kam sogar eine Demo vorbei. Die begannen am Adenauerplatz und endeten an der Gedächtniskirche. Manchmal auch umgekehrt, aber durch mein Wohnzimmer gingen sie fast immer.

      Det war Berlin. Groß genug, dass etwas passierte. Und überschaubar genug, um zu wissen, wo es passierte. In einer Stunde war jeder Fleck zu erreichen. Spandau war fast eine andere Stadt und das Schlesische Tor das Ende der Welt.

      „Kommt Ihr Euch nicht eingeengt vor?“, fragten die Touristen. Wir kannten die Frage, aber wir verstanden sie nicht. Berlin war für uns der einzige Ort, an dem wir uns vorstellen konnten zu leben. Hier gab es alles, was man brauchte. Der Wannsee war unser Meer und der Grunewald unser Dschungel. Auch wenn die SPD in den 70ern plakatierte: „Berlin stimmt wieder“ – für uns hatte die Stadt immer gestimmt. Es war, wie es war, und so wie es war, war es selbstverständlich. Die Mauer haben wir nie besichtigt. Wir waren eher überrascht, wenn wir mal vor ihr standen – und fühlten uns in Sicherheit, weil wir uns nicht weiter verlaufen konnten.

      Die DDR interessierte uns nicht. Sie war weder gut noch schlecht, sondern einfach nur da. Ihre Existenz in Gänsefüßchen zu packen wie in der Springer-Presse, kam uns absurd vor. Wir fühlten uns eher gelangweilt von ihr als bedroht. So langweilig, wie wir sie als Kinder an der Passagierscheinstelle im Forum Steglitz kennen gelernt hatten. So langweilig, wie es war, jeden Urlaub im Stau an der Transitkontrolle zu beginnen.

      Und für die Heimreise galt: Von den Kilometerangaben hinter „Berlin – Hauptstadt der DDR“ musste man 50 abziehen; ab „Plaste und Elaste aus Schkopau“ noch eine Stunde bis zu unserem Berlin. Freiheitskundgebungen lagen uns fern. Wir fühlten uns frei. Warum auch nicht! 28 Jahre lang wuchs in West-Berlin eine Spezies heran, für die Vereinigung nichts mit „wieder“ zu tun hatte. Als wir die Stadt entdeckten, gehörte die Mauer längst dazu. Freunde dahinter hatten höchstens die Eltern. Der Transitverkehr mit Wessiland war geregelt. Wer wollte, konnte den Osten besuchen – wenn auch nur gegen ein überhöhtes Eintrittsgeld – wie im Phantasialand. Wir taten es von Zeit zu Zeit; aber nur, weil Phantasialand zu weit weg war.

      Doch so normal uns das alles auch vorkam, besonders fühlten wir uns trotzdem. Wir fühlten uns als Berliner, wie sich Wuppertaler als Deutsche fühlten. Und dafür, dass wir anders waren, gab es genug Beweise: Die Bundeswehr ließ uns in Ruhe, und den Bundestag durften wir nicht mitwählen. Dafür gab es bei uns nach alliiertem Recht noch die Todesstrafe. Wir waren stolze Besitzer von behelfsmäßigen Personalausweisen, und weil wir die ja nicht jedem ungefragt unter die Nase halten konnten, fingen wir bei Besuchen in Wessiland an zu berlinern (was wir zu Hause nie machten). Wessis waren damals noch alle, die aus dem Bundesgebiet kamen. Eine Bezeichnung, die gleichbedeutend war mit Hinterwäldler und Ahnungslose – egal, ob jemand aus Köln kam oder Oberwarmensteinach. Besonders ahnungslose Hinterwäldler outeten sich durch eine Nachfrage zu unserer Herkunft: „Ost- oder West-Berlin?“ Dann lachten wir herzlich und laut.

      Die große weite Welt fanden wir in unserer kleinen: Unsere Promis hießen Juhnke und Mira, unsere Politiker Stobbe und Diepgen. Unsere „Tagesschau“ war die „Berliner Abendschau“, und die Skandale hießen Antes und Garski. Politik wurde im Rathaus Schöneberg gemacht – zwischen Lohnsteuerkartenstelle und Standesamt.

      Provinziell? Papperlapapp! Wir waren die Größten. Doch mit dem Fall der Mauer fiel auch unsere überschaubare Welt. Die Ossis gewannen die Freiheit, die Wessis an Selbstwertgefühl. Und wir? Wir gewannen Bewegungsfreiheit, die wir gar nicht brauchen. An die wir uns bis heute nicht gewöhnen konnten.

      Wenn wir im Sommer an den Stechlinsee fahren (und wir fahren selten raus aus Berlin), bereiten wir uns vor wie auf eine Reise: Wir planen schon Wochen vorher und packen Proviant ein, als wüssten wir nicht, dass es Imbissbuden mindestens so viele wie Nazis gibt. Wenn wir in Berlin Klamotten kaufen gehen, dann nach wie vor am Ku’damm oder der Schlossstraße. Friedrichshain liegt für uns kurz vor Frankfurt (Oder). Ein Freund stellte neulich fest, dass es in Berlin nur drei U-Bahn-Linien ohne überflüssige Stationen gebe: die U 4, 7 und 9. Denn die halten nicht im Osten.

      Nicht, dass wir wirklich etwas gegen den Osten haben, wir haben nur einfach viel verloren: Die Berlin-Zulage an den Aufbau Ost, das Nachtleben an Mitte und Prenzlauer Berg, den Begriff Wessis an die Ossis. Für die sind wir jetzt selber welche. Und wenn wir heute in Wessiland anfangen zu berlinern, werden wir für Ostler gehalten – und können nicht mal mehr unseren behelfsmäßigen Perso zücken. Den mussten wir mit unseren anderen Insignien abgeben. Besondere Kennzeichen: keine.

      Zurückbekommen haben wir für diesen letzten Zwangsumtausch nichts – nicht mal Begrüßungsgeld. Dass Berlin Hauptstadt und Regierungssitz wird, war für uns eh selbstverständlich. Wir waren schon immer der Mittelpunkt der Welt (auch wenn in allen Himmelsrichtungen Osten ist). Bloß dass die Bonner dafür nach Berlin ziehen müssen, empfinden wir als störend.

      Der alten Tante Tagesspiegel vertraute eine Berlinerin kürzlich an, sie habe eine „tiefere innere Sehnsucht nach der Kuscheligkeit des alten West-Berlin“. Die wurde von rheinischen Frohnaturen inzwischen endgültig wegmodernisiert. Kreuzberg, unser altes Ende der Welt, gehört auf einmal zur neuen Mitte. Und selbige sitzt da jetzt auch noch in den Cafés herum, trinkt Prosecco und findet Berlin „unheimlich spannend“. Aber spannend war es auch schon 1987 auf dem Ku’damm. Nur nicht unheimlich.

      (1999)

      Berlin, vollendete Gegenwart

      Nirgendwo hat sich Deutschland seit dem Mauerfall so verändert wie in Berlin. Aber was hat sich eigentlich genau getan? Eine Fahrt mit dem Motorroller, die zu einer Zeitreise wird.

      Touristen und frisch Hinzugezogenen mag Berlin wahlweise groß, laut, schnell, grün, lebendig, verrückt oder schroff vorkommen – uns Berlinern fällt das nicht weiter auf. Und auch, wie die Stadt sich verändert hat, nehmen wir im Alltag nicht wahr, so wie man die Veränderung eines Freundes, Bruders oder der Mutter nicht wahrnimmt, die man regelmäßig sieht, mit denen zusammen man altert und die für einen aussehen wie immer. Und was anderes als Freund, Bruder oder Mutter ist Berlin denn für uns?

      Natürlich wissen wir, dass die Stadt sich verändert hat, aber wie nun genau, das hat die Gewöhnung verwischt. Wie hat sie ausgesehen, gerochen, sich angefühlt – vor zwanzig Jahren, als die Mauer noch stand? Vor fünfzehn Jahren, als die Stadt gebaut wurde, in der wir jetzt leben? Vor zehn Jahren, als die Bonner und Beamten kamen und in ihrem Gefolge die Medien, Konzerne, Kulturschaffenden? Berlin ist wie ein Gemälde, das die ersten Pinselstriche enthält, sie gleichzeitig aber nicht preisgibt.

      Es ist eine Fahrt mit dem Motorroller, die für mich zu einer Zeitreise wird. Vielleicht, weil ich die Strecke so häufig gefahren bin, dass die Routine mir den Blick für die Vergangenheit öffnet; vielleicht liegt es auch an der Strecke an sich: von Moabit nach Kreuzberg, ein Mal diagonal durch die Mitte, entlang der nagelneuen Naht aus Beton, Stahl und Glas, unter der die ehemalige Grenze vernarbt. Zwanzig Jahre Berlin in zwanzig Minuten, eine Motorradfahrt entlang der Veränderung.

      Ich lasse die Untersuchungshaftanstalt Moabit hinter mir, die mit der Liste ihrer Insassen auch eine Geschichte dieser Stadt erzählt: von Rosa Luxemburg über Bommi Baumann bis zu Erich Mielke. Auf dem Mittelstreifen vor der Mauer malt eine junge Frau ein Herz in die Luft – in der obersten Etage des Gebäudes hinter der Mauer schaut ein Mann durch die vergitterten Fenster.

      Ich fahre am Edelrestaurant „Paris – Moskau“ vorbei, an dessen Fassade ein Transparent das 25-jährige Jubiläum verkündet – das ist wohl das, was man einen richtigen Riecher nennen muss: Fünf Jahre vor dem Mauerfall an diesem entlegenen Winkel der Welt ein Nobelrestaurant zu eröffnen, das nun in Fußweite von Parlaments- und Regierungssitz liegt.

      Links winkt der Hauptbahnhof, der aussieht wie ein gelandetes Ufo, rechts das Kanzleramt mit seinen kubischen, runden, verschachtelten Formen, die irgendwas von Innen und Außen und Transparenz erzählen sollen – also wenig von politischer Realität. Wie eine Disney-Landschaft