Frank räusperte sich. „Du musst endlich loslassen, Marlene. Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich dir diesen Ratschlag noch erteilen soll. Es macht dich kaputt, wenn du immer nur zurückschaust, wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern.“
„Aha, bist du jetzt ein ausgebildeter Psychologe?“, antwortete sie mit einem spöttischen Unterton.
„Nein, aber es hat Mia sehr verletzt, dass du sie für Marie gehalten hast. Sie lebt im Schatten ihrer Schwester, siehst du das denn nicht?“
„Weißt du, was mich wundert? Dass du Mia immer als Vorwand benutzt. Dabei warst du doch derjenige, der Marie ohne weiteres ausgetauscht hat“, rechtfertigte sie sich.
„Bitte nicht schon wieder diese alte Leier“, stöhnte er auf. „Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Deine Therapie hat nichts gefruchtet, du lebst immer noch allein ...“
„Das alles geht dich überhaupt nichts mehr an“, fauchte sie wütend. „Ich führe mein Leben so, wie ich es für richtig halte. Punkt.“
„Das wäre ja auch alles kein Problem, wenn du Mia damit nicht ständig belasten würdest“, konterte er.
„Sagt wer?“
„Vergiss es einfach.“ Frank winkte resigniert ab. „Ich bitte dich nur darum, Mia eine gute Mutter zu sein.“
„ ... sagte der Vater, der durch Abwesenheit glänzt“, vollendete sie den Satz. Seine Worte hatten sie zutiefst verletzt. „Ich bin eine gute Mutter und das weißt du auch“, empörte sie sich. „Wenn Mia krank war, habe ich an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gehalten, während du mit Juliane gevögelt hast.“
So, jetzt war es raus. Sie stand auf und schritt hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei. Nein, so einfach war das nicht, auch wenn sie vielleicht ihr gesamtes Leben vergebens hoffen würde.
„Ich erkenne dich nicht wieder und ich verbiete dir, so über uns zu reden.“ Fassungslos schüttelte er seinen Kopf.
„Wie du das kleine Wörtchen uns betonst. Ich denke, damit hast du dich selbst ins Abseits manövriert.“
„Jedes Wort, das ich sage, legst du auf die Goldwaage.“ Seine Geduld schrumpfte merklich.
„Frank, die Geburt unserer Zwillinge war einst der schönste Tag in unserem Leben. Dass du ausgerechnet heute mit mir darüber streiten musst, spricht nicht unbedingt für dich.“ Sie ließ ihn einfach stehen und lief nach unten.
Kapitel 3
Lisa saß mit verquollenen Augen auf der Bettkante. „Warum sind die anderen nach der Geburt nur so emotionslos?“, fragte sie schluchzend.
„Ich kann es dir leider nicht sagen“, antwortete Lene. „Eigentlich bin ich auch ganz froh darüber, dass ich diese Erfahrung noch nicht machen musste“, gestand sie Lisa ehrlich.
„Aber du bekommst inzwischen Hormone gespritzt?“
Lene nickte. „Mir geht es gar nicht gut und ich fürchte mich vor der nächsten künstlichen Befruchtung.“
„Es ist zum Verzweifeln und noch einmal stehe ich das nicht durch. In meinen Träumen höre ich meine Kinder schreien und das treibt mich fast in den Wahnsinn. Vielleicht sollte ich noch mehr Sport treiben und abnehmen, um mehr Zeit zu gewinnen.“
„Meinst du, das hilft?“ Hoffnung schimmerte in Lenes Augen.
„Ich weiß es nicht genau.“ Lisa schüttelte bedauernd ihren Kopf. „Aber ich will nie wieder schwanger werden, eher sterbe ich.“
„So etwas darfst du niemals denken. Außerdem, was wird dann aus mir?“
„Aber ich kann nicht einfach so weitermachen. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich Mädchen oder Jungen das Leben geschenkt habe. Ich vermisse die beiden so sehr.“
„Du durftest keinen Blick auf deine Kinder werfen?“, fragte Lene schockiert.
„Nein, sie haben gesagt, dass würde mich nur verwirren. Hast du eigentlich einen besonderen Trick, weil du bis jetzt noch nicht schwanger geworden bist?“ Lisa schaute sie aufmerksam an.
„Ich weigere mich einfach, will es nicht akzeptieren. Große Sorgen bereiten mir nur die Hormone, die sie in mich hineinpumpen. Ich habe Angst, dass sich mein Körper irgendwann seinem Schicksal beugt.“
„Wie erwachsen du klingst. Weißt du eigentlich, was mit uns passiert, wenn wir keine Kinder mehr bekommen können? Hier müsste es doch nur so von älteren Frauen wimmeln?“
„Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Vielleicht kommen sie dann auf eine andere Station?“ Ratlos zuckte Lene mit den Schultern.
„Manchmal habe ich so meine Zweifel an der Geschichte mit den Auserwählten, dass wir hier in Saus und Braus leben können, während da draußen die Welt zugrunde geht. Wir müssen immer nur das essen, was sie uns vorsetzen, lernen rund um die Uhr und wenn ich an die strengen Regeln denke ...“ Lisa stieß frustriert die Luft aus. „Wir sind für den Fortbestand der Menschheit vorbestimmt, was für eine alberne Floskel. Die Natur hat uns mit zwei Milchpacks ausgestattet, damit wir unsere Kinder eigenständig aufziehen.“
Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und Lene nahm sie tröstend in den Arm.
„Ich will meine Kinder zurück“, schluchzte Lisa leise.
Lene strich ihr sanft übers Haar. „Ich würde dich so gern von deiner Last befreien, aber ich fürchte, wir sind ihnen hilflos ausgeliefert.“
Lisa hob ihren Kopf und blickte Lene fest in die Augen. „Wenn ich wieder schwanger bin, nehme ich mir das Leben. Ich kann das einfach nicht, für niemanden auf der Welt. Es zerreißt mir das Herz, es macht mich kaputt.“
„Bitte Lisa, tu das nicht“, stammelte Lene verzweifelt.
„Sie halten uns wie Tiere. Statt Tageslicht gibt es UV-Lampen und ich frage mich, ob wir jemals die Sonne zu sehen bekommen?“
„Vielleicht können wir fliehen, zusammen, ohne den anderen zurückzulassen?“ Ein Funken Hoffnung lag in ihrer Stimme.
„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Lisa rückte ein wenig von ihr ab. „Lucy hat erzählt, dass sie überall Kameras haben und jeden unserer Schritte überwachen. Sie ist sich sogar sicher, dass die uns abhören.“
„Wirklich?“ Lene ließ resigniert die Schultern hängen.
„Noch bevor wir das Wort Flucht überhaupt ausgesprochen hätten, würden die etwas unternehmen. Sie sagen uns immer wieder, wie kostbar unsere Gene sind und dass sie uns deshalb so hüten. Aber ich habe mich nicht nur einmal gefragt, was aus den Mädchen geworden ist, die bei den Prüfungen versagt haben und aussortiert wurden. Von heut auf morgen waren sie verschwunden.“
Lisa redete sich in Rage.
„Wir tragen alle Vornamen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben. Wo sind unsere Eltern abgeblieben? Wurden wir genauso künstlich gezeugt und gleich nach der Geburt unseren Müttern entrissen? Es wäre doch für alle Beteiligten das Beste, wenn wir unser Muttersein auch ausleben dürften. Also wenn du mich fragst, hier ist irgendetwas faul.“
„Dann müssen wir etwas dagegen unternehmen, gemeinsam schaffen wir das“, antwortete Lene mit Nachdruck.
„Wir wissen doch gar nicht, wie es hinter den Stahltüren aussieht.“
„Oh doch, ich weiß es“, beharrte Lene. „Fast jede Nacht träume ich davon. Ich sehe den Himmel, der sich in einem kräftigen Hellblau über uns wölbt und fühle die Sonne, die mir warm ins Gesicht scheint. In mir sind