„Du weißt doch Mama, dass wir da anderer Meinung sind.“
„Aber sicher. Komm her meine Maus und lass dich umarmen.“
Marlene drückte ihre Tochter fest an sich und trotz der Trauer durchflutete sie ein Glücksgefühl. Sie hütete Mia wie einen kostbaren Schatz, obwohl sie wusste, dass dieses Verhalten für das Mädchen manchmal zur Belastung wurde.
Mia löste sich behutsam aus der Umklammerung ihrer Mutter und umrundete das Bett. Wie selbstverständlich lupfte sie die Decke und nahm auf der leeren Seite des großen Doppelbettes Platz. Dann kuschelte sie sich eng an ihre Mutter, so wie sie es schon seit Jahren tat.
Marlene fuhr sanft durch Mias blonde Locken und hörte erst auf, als sie die gleichmäßigen Atemzüge ihrer Tochter vernahm. Voller Bitterkeit erinnerte sie sich an die zurückliegenden Jahre, an die Scheidung von Frank und ihr persönliches Trauma.
Ihm war es irgendwann zu viel geworden, ihre Besessenheit von Marie und die Suche nach ihrer gemeinsamen Tochter. Sie konnte und wollte nicht akzeptieren, dass Marie nicht mehr am Leben sein sollte. Fünf Jahre war Frank noch an ihrer Seite geblieben, bis er sich getrennt und eine neue Familie gegründet hatte. Er war ein attraktiver Mann, damals wie heute, und Juliane, seine Neue, hatte ihm noch ein Mädchen geschenkt.
Marlene hatte ihm einmal an den Kopf geworfen, dass er Marie einfach ersetzen wollte. Natürlich war dem nicht so, es hätte genauso gut ein Junge werden können. Aber sie fühlte sich im Stich gelassen, auch wenn er sich nach der Trennung ausgesprochen großzügig verhalten hatte. Das Haus durfte sie behalten und ebenso den Wagen, aus dem inzwischen eine alte, rostige Kiste geworden war.
Vor dem morgigen Tag graute ihr besonders, denn sie würde Frank mit seiner Familie notgedrungen ertragen müssen. Mia wurde siebzehn und sie wollten diesen Geburtstag gebührend feiern. Erst im Kreise der Familie und anschließend hatte Mia geplant, mit ihren Freundinnen tanzen zu gehen.
Marlene stöhnte leise. Mias Geburtstag war der schönste und schlimmste Tag zugleich. Am liebsten würde sie sich verkriechen, auswandern, einfach nicht da sein. Aber das ließ sich nicht vermeiden und schon Mia zuliebe musste sie durchhalten.
Für sie waren es Höllenqualen, nur einem Mädchen Geschenke zu überreichen, dabei hatte sie an diesem Tag zwei Kinder zur Welt gebracht – die Zwillinge Mia und Marie. So wie jedes Jahr würde ein herzliches Lächeln ihre Lippen umspielen, während in ihrem Innersten ein erbitterter Kampf tobte.
Vorsichtig drehte sie sich auf die andere Seite, um Mia nicht zu wecken, und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Mit Wehmut erinnerte sie sich an den Tag, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte ...
„So, ihr Hübschen, dreimal Zuckerwatte für die süßesten M&M’s.“
Frank reichte seiner Frau und seinen beiden Töchtern die Nascherei. Marie, die ungeduldigere der beiden Zwillinge, griff mit ihren kleinen Patschehändchen sofort in die fluffige rosafarbene Zuckerwatte und stopfte sich eine große Portion in den Mund.
Marlene rollte mit den Augen und wischte mit einem Taschentuch Maries Wangen sauber. „Unsere kleine Naschkatze lernt es wohl nie“, seufzte sie mit einem Lächeln.
„Von wem sie das wohl hat?“ Frank strahlte sie an und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Was willst du mir damit sagen?“ Gespielt entrüstet knuffte sie ihn in die Seite, bevor sie Hand in Hand über den Kirmesplatz schlenderten.
Die Zwillinge in ihren geblümten Kleidchen steuerten das nächste Fahrgeschäft an und klatschten begeistert in die Hände, während ihre Zöpfe fröhlich auf und ab wippten. Frank spendierte ihnen drei Fahrten und vergnügt jauchzend winkten Mia und Marie ihren Eltern zu.
Die Liebe und die Harmonie standen der kleinen Familie ins Gesicht geschrieben. Die Sonne strahlte vom Himmel und machte das Glück perfekt.
„Marlene, ich hole mir dort drüben am Stand eine Bratwurst, dieser ganze Süßkram ist nichts für mich.“
„Ja, mach nur, ich kümmere mich derweil um unsere Mäuse.“
Frank gesellte sich zu der kleinen Menschentraube vor dem Imbissstand, während Marlene mit Mia und Marie die bunten Buden bestaunte. An einem Verkaufsstand für Schmuck blieb sie stehen und betrachtete die Auslagen. Ihr Blick blieb an einem Paar silberner Ohrstecker hängen, die würde sie sich auf dem Rückweg gönnen.
„Mia, Marie, weiter geht’s.“ Ihre suchende Hand griff ins Leere. „Mia, wo ist Marie?“
„Luftballon!“ Mia deutete auf einen Mann, der im Clownkostüm bunte Ballons verkaufte.
„Oh nein.“
Marlene rannte los und zerrte die weinende Mia hinter sich her. Sie drängte sich durch die Menschenmenge und rief verzweifelt den Namen ihrer Tochter. Dann stand sie endlich vor dem Mann im Clownkostüm.
„Entschuldigen Sie bitte, haben Sie meine Tochter gesehen?“, fragte sie völlig außer Atem. Ihre Worte hatten einen flehenden Ton angenommen.
„Wie sieht sie denn aus?“
Marlene wehte eine leichte Alkoholfahne entgegen. „Das ist ihre Zwillingsschwester.“ Sie zeigte mit einer fahrigen Handbewegung auf Mia. „Sie trug das gleiche Kleidchen, die gleiche Frisur ...“ Nur mit Mühe konnte sie ein Schluchzen unterdrücken.
„Neee, die ist hier nicht entlanggekommen.“ Er wandte sich ab und kümmerte sich weiter um den Verkauf seiner Luftballons.
„Aber meine Tochter behauptet, dass Marie zu Ihnen gelaufen ist“, beharrte sie.
„Jetzt hören Sie mir mal zu. Ich habe Ihren Knirps nicht gesehen und damit basta.“
Ein Arm legte sich um Marlene. „He, wo wart ihr denn? Ist etwas passiert?“ Franks Blick irrte suchend umher.
„Marie, sie ist einfach so verschwunden.“ Marlenes Stimme überschlug sich regelrecht.
„Ich verstehe kein Wort, bitte hilf mir auf die Sprünge.“ Frank musterte sie eindringlich.
„Ich war nur für einen winzigen Moment unaufmerksam und plötzlich war Marie wie vom Erdboden verschluckt. Mia meinte, sie wäre zu dem Stand mit den Luftballons gelaufen.“ Marlene konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.
„So, mein Freundchen“, Frank warf die Bratwurst in einen Papierkorb und umklammerte den Unterarm des Mannes mit einem festen Griff. „Jetzt erzählst du mir bitte haargenau, wo ich meine Tochter finden kann.“
Die Antwort fiel anders aus, als erwartet, denn nur einen Atemzug später taumelte Frank zurück. Die Faust des Mannes hatte sein Kinn getroffen.
„Jetzt reicht es!“
Frank war außer sich und stürzte sich auf ihn. In wildem Gerangel wälzten sich die Männer auf dem Boden und wirbelten jede Menge Staub auf.
„Schluss jetzt!“ Ein Ordnungshüter mischte sich ein und zerrte die Männer auseinander. „Worum geht es eigentlich?“
Frank klopfte seine Hose sauber. „Unsere Tochter ist verschwunden, genau an dieser Stelle.“
„Stimmt das?“
Der stämmige Mann von der Security drehte sich zu dem Mann im Clownkostüm, doch der zuckte nur mit seinen Schultern.
„Hier kommen am Tag zig Leute vorbei, da kann ich nicht auf jeden einzelnen Besucher achten.“
„Bitte, was wird denn nun?“
Marlene hatte das Gefühl, allmählich durchzudrehen. Das Blut rauschte in den Ohren und ihr Puls raste.
„Wie