Vollbremsung. Heike Heth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Heth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738092875
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beisammen, ein Sektglas in der Hand und unterhalten sich ausgelassen. Er, in derselben Aufmachung, schlendert zu einer hinüber und lauscht dem Gespräch, beteiligt sich jedoch nicht. Man redet über aussichtsreiche Positionen und Karrierechancen, die sich durch die glänzenden Kontakte der Väter ergeben und eine erfolgreiche Zukunft verheißen. Sich von der Gruppe abwendend, hört er einen den anderen verächtlich zuraunen: »Na, schau dir das Beamtensöhnchen an, mit Charlotta hat er sich endgültig in unsere Kreise hineinlaviert.«

       Die Szene verschwimmt, im nächsten Moment sitzt der Mann, etliche Jahre älter, in einem Sessel und liest einen Brief. Er hat freien Blick darauf und darin steht, dass er zum Unternehmer des Jahres gewählt worden ist. Ein Ausdruck absoluter Genugtuung legt sich auf sein Gesicht. Doch bereits wenige Minuten später geht er grübelnd im Raum umher, Worte vor sich hinmurmelnd, bis eine zuknallende Tür ihn aufschrecken lässt.

      Der Knall hallte in Michael nach, sein Bewusstsein stieg an die Oberfläche, bis die Eindrücke der vorangegangenen Träume es erneut einfingen und in die Tiefe zogen. Es dauerte eine Weile, bis er sich daraus befreite und verwirrt registrierte, dass er aufgewacht war. Wo war er, was war geschehen, wieso lag er im Bett, hatte er lange geschlafen?

      Der regelmäßige Piepston, der an seine Ohren drang, das rhythmische Röcheln, das sich anhörte, als schlürfe jemand Luft, trugen ihn in die Gegenwart und brachten ihm seinen Aufenthaltsort und die bisherigen Ereignisse erneut ins Bewusstsein. Wie ein Wolkenbruch brach die Erinnerung über ihn herein.

      Er versuchte festzustellen, ob eine Schwester im Zimmer war. Es gab keine entsprechenden Anhaltspunkte, dabei fiel ihm auf, dass bisher kaum jemand da gewesen war.

      Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Es war ihm so wenig vertraut, dass er lange brauchte, bis er es erkannte und noch länger zu akzeptieren, dass es tatsächlich so war. Er fühlte sich hilflos und verlassen!

      Im Alltag ignorierte er bestimmte Regungen und verdrängte sie schnell, damit sie ihm nicht in die Quere kamen. Ärger, Ungeduld, Genugtuung über Erfolge und ein paar andere hingegen gestand er sich zu. Sich einsam und ohnmächtig zu fühlen, gehörten normalerweise nicht dazu.

       »Was ist schon noch normal in der Welt, in der du dich momentan befindest?«

      Ja, und du bist der Beweis dafür, dachte er resigniert und inzwischen ohne Überraschung, sie wieder zu hören. Anscheinend musste er sich damit abfinden, dass diese Stimme sich in seine Gedanken einmischte. Oder war sie Teil davon? Sprach sie aus, was er sich nicht zu denken traute? Diese Vorstellung gefiel ihm nicht. Sie hinterließ zu sehr den Eindruck einer gespaltenen Persönlichkeit. Immerhin lag sie richtig mit ihrer Aussage, er fühlte sich, als wäre er aus seinem gewohnten aktiven Leben herausgefallen. Er lag da, zur Untätigkeit verdammt, und besaß keinerlei Handlungsspielraum.

      »Na, ganz so schlimm ist es nicht. Du hast noch einige deiner Sinne, und soweit ich es beurteilen kann, ist deine Denkfähigkeit vollkommen intakt.«

      Es passte ihm nicht, ihr erneut Recht zu geben. Michael begab sich unverzüglich ans Werk, um herauszufinden, ob es irgendwelche Veränderungen gab. Das gab ihm die Illusion, die Kontrolle wenigstens teilweise wieder zu erlangen und sein Handeln selbst zu bestimmen.

      Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die Augenlider und befahl ihnen aufzuklappen. Alles blieb dunkel, und er spürte keine Bewegung. Wieso funktionierte dieser simple Befehl, der sonst, ohne dass man es überhaupt registrierte, problemlos ausgeführt wurde, nicht? Obwohl im Klaren darüber, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit einschloss, dass der Rest seines Körpers genauso reglos verharrte, erteilte er nach und nach jedem seiner Gliedmaße vergebens die Anweisung, sich anzuheben.

      Frustriert lag er da und starrte in die Dunkelheit hinein. Hinter den Augenlidern schimmerte es dunkler als beim letzten Mal. Hatte man die Lampe ausgeknipst oder war davor Tag gewesen und jetzt Nacht? Es war unmöglich, zwischen künstlichem und natürlichem Licht zu unterscheiden. Er erkannte, dass die ihm verbliebenen Sinne nichts nutzten, ohne Zugriff auf einschlägige Erfahrungen. Er wusste weder, wie lange er insgesamt hier lag, noch, wie viel Zeit verging, während er schlief oder wach war. Im Alltag brauchte er eine Uhr, die ihm verlässlich anzeigte, dass er seinen festgelegten Zeitrahmen einhielt. Ein geregelter Tagesablauf gab ihm seit der Schulzeit Sicherheit. Nur durch eine straffe Organisation und eiserne Disziplin gelang es einem Mann in seiner Position, das tägliche Arbeitspensum zu bewältigen. Für Spontaneität oder Leerlaufzeiten gab es keinen Platz, und auch sein Privatleben musste sich dem unterordnen. Am wenigsten mochte er, wenn andere seine wertvolle Zeit verschwendeten. Es galt stets die Kontrolle zu behalten, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen und den Konkurrenten einen Schritt voraus zu sein.

      Die Tür ging schwungvoll auf, und mit quietschenden Schuhen eilte jemand in das Zimmer. Sicher eine Schwester, dachte er. Dann stieg ihm der Gestank von kaltem Zigarettenrauch in die Nase, was darauf hindeutete, dass sie unmittelbar neben dem Bett stand. Er verabscheute es, wenn Leute in seiner Nähe nach Aschenbecher rochen. Er selbst frönte diesem Laster seit Jahren nicht mehr, und es missfiel ihm aufs Äußerste, dass er diese Person nicht wegschicken und nach einer anderen Schwester verlangen konnte. Schließlich war er Privatpatient.

       »Ganz schön anspruchsvoll, der Herr.«

      Der Stimme schien es Spaß zu machen, unerwartet und jederzeit einfach so in seine Gedanken hineinzuplatzen.

      Michael gab vor, nichts zu hören und verkniff sich eine Antwort. Der Impuls, mit ihr ein Gespräch zu führen, besorgte, ihn, und er fürchtete, dass sein Geisteszustand vielleicht doch gelitten hatte.

       »Tja, wer weiß. Du magst unerklärliche Dinge so ganz und gar nicht, nicht wahr?«

      Das Hantieren der Schwester am Bett lenkte ihn von diesem hämischen Kommentar ab. Er spürte tatsächlich ihre Hände mehrmals über die Bettdecke streichen, wobei sie einen Wischlaut erzeugten.

      »Guten Morgen, Herr Hallstatt? Na, ob wir wohl wach sind? Haben Sie ein kleines Blinzeln für mich übrig? Nein? Macht nichts, gleich kommt die Visite, und dann erfahren wir, was mit uns los ist.«

      Michael kochte vor Empörung. Er hasste es, wenn Ärzte und Schwestern mit Kranken sprachen, als wären sie unmündige Kleinkinder. Wieso glaubten sie, sich mit diesem blödsinnigen »wir« mit ihnen gleichzusetzen? Blöde Kuh! Zu dumm, dass er ihr keine passende Rückmeldung an den Kopf werfen konnte. Immerhin kam demnächst jemand, und er hoffte, dass man ihn über seinen Zustand aufklärte. Das Warten fiel ihm schwer, er lauschte und vermutete, dass die Schwester mit den Geräten herumhantierte. Er fragte sich, wie sie aussah? War sie jung oder alt, gutaussehend, dick oder dünn?

       »Was, wenn du wüsstest, dass sie nicht deinem Geschmack entspricht? Wäre das auch ein Grund, eine andere zu verlangen?»

       »He, was soll das! Glaubst du, hier den Moralapostel spielen zu müssen? Ich stelle doch nur ein paar Vermutungen an, weil ich nichts sehe!«

      Verflixt, jetzt rechtfertigte er sich einer imaginären Stimme gegenüber. Es gelang ihm einfach nicht, sie zu überhören.

      Da wurde die Zimmertür aufgerissen, und mehrere Personen näherten sich schnellen Schrittes seinem Bett.

      »So, dann wollen wir mal«, sprach eine gutturale Männerstimme. »Gibt es bei dem Patienten irgendwelche Veränderungen, Schwester Brigitte?«

      »Nein, Dr. Friedrich, keinerlei Anzeichen von Bewegung, kein Blinzeln oder anderweitige Reaktionen. Alle Körperfunktionen sind stabil, das Herz schlägt regelmäßig, die Beatmung ebenso wie die künstliche Ernährung, alles funktioniert einwandfrei.«

      Die Erläuterungen der Schwester, die nun anfing, gelangweilt Messwerte und sonstige Angaben herunterzurasseln, bestätigten seine Wahrnehmungen und Annahmen.

      »Gut, danke«, entgegnete der Arzt. Dann richtete er sich in einem geschäftsmäßigen, emotionslosen Ton an Michael »Herr Hallstatt, es ist möglich, dass Sie uns hören, deshalb spreche ich direkt mit Ihnen. Sie hatte vor sieben Tagen einen schweren Autounfall. Dabei erlitten beide Lungenflügel Quetschungen, die Milz einen Riss und die