Vollbremsung. Heike Heth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heike Heth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738092875
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erwachte er gerade in einem fremden Land. Er musste nur die Augen öffnen, um das übliche Hotelzimmer gehobener Ausstattung zu sehen.

      Michael stutzte. Hatte er nicht bereits versucht, die Augen aufzuklappen? Weshalb war es ihm nicht gelungen? Er probierte es erneut. Vergeblich! Was hinderte ihn daran!? Warum funktionierte etwas so Selbstverständliches plötzlich nicht mehr? Ruhig bleiben! Er war jetzt sozusagen hellwach und konzentrierte sich auf das, was er in der Lage war, wahrzunehmen. Dabei stellte er fest, dass ein kräftiger gelb-roter Lichtschimmer durch seine Lider drang. Genauso leuchtete es, wenn einem die Sonne oder eine grelle Lampe direkt auf die geschlossenen Augen schien. Allerdings müsste er die Wärme dann ebenfalls spüren, was nicht der Fall war. Oder träumte er das auch? Aber er träumte doch nie!

      »Nie«, hallte es in diesem Moment sanft aus dem Hintergrund.

      Er hörte es, ganz deutlich. Wer sprach da? Spielten ihm seine Sinne einen Streich? Verwundert wollte er den Kopf schütteln und bemerkte, dass er wie bei den Augenlidern keine Bewegung feststellte. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Da stimmte etwas nicht, das war einfach nicht normal.

       »Normal?«

      Da, schon wieder! Es war definitiv nicht normal, Stimmen zu hören! Sein Schädel brummte, ihm schwindelte, er fühlte sich angeschlagen und müde. Er musste krank sein und hohes Fieber haben. Das wäre eine Erklärung für die wirren Träume und Eindrücke. Vielleicht war er deshalb auch zu schwach, um die Augen zu öffnen und seinen Kopf zu bewegen. Erleichtert gab er der Müdigkeit nach und schlief ein.

      Erneut zogen Traumszenen auf, ließen ihn kurz aufschrecken, jedoch ohne ihn in den Wachzustand zurückzukatapultieren.

       Er sieht einen Mann, der in eine Küche tritt. Dort nimmt er sich eine Tasse, füllt sie zur Hälfte mit Kaffee und gießt den Rest mit der auf dem Herd bereitgestellten warmen Milch auf. Eine Frau, vielleicht die Ehefrau des Mannes, begrüßt ihn beiläufig. Er erwidert den Gruß, sagt aber nichts anderes. Sie, bekleidet mit einem Morgenmantel, was dem Mann, dem Blick nach zu urteilen, offensichtlich nicht gefällt, sitzt am Esszimmertisch und trinkt ihren Morgenkaffee. Er setzt sich auf einen Hocker an der Küchentheke, die an das Esszimmer angrenzt.

      Abrupt wechselte die Szene.

       Der Mann befindet sich in einem festlich geschmückten, aber dennoch nüchternen Saal. Er sitzt in der ersten Reihe einer langen Folge von Stühlen, auf denen vornehmlich Herren in dunklen Anzügen und wenige Frauen, in nicht nur ausschließlich dunkelfarbigen Kostümen und Anzügen, sitzen. Jemand am Pult auf dem Podium hält eine Urkunde und bittet den Mann nach vorne. Das Publikum applaudiert.

       Dieser steht ohne Hast vom Stuhl auf und knöpft sich dabei mit der linken, frisch manikürten Hand das Jackett zu. Dann geht er mit forschen, gleichwohl langsamen Schritten, merklich darauf achtend, nicht den Oberkörper nach vorne zu neigen, zu dem Podium. Das gesamte Auftreten und die Gesten wirken akribisch einstudiert.

      Erneut veränderte sich schlagartig das Szenario. In rascher Folge sah er die Frau und den Mann in Situationen, in denen sie jedes Mal heftig stritten. Dabei hatte er den Eindruck, über ihnen zu schweben, abgeschirmt von einer unsichtbaren Hülle, während zornig klingende Gesprächsfetzen zu ihm hochdrangen:

       »... Immer steht deine Karriere an erster Stelle! Nie bist du zufrieden mit dem, was du erreicht hast. Ständig gibt es eine nächste Stufe, die es zu erklimmen gilt! Wann nimmst du dir endlich Zeit für die Menschen in deinem Leben? Man müsste dich festbinden, damit du einem zuhörst! ...«

      »...Wieso kannst du mir nicht kurz und bündig sagen, was Sache ist? Reden, reden, bla, bla, bla, jeder will heute permanent reden! Diese Besprechungsmanie geht mir gehörig auf die Nerven! ...«

       »... Ich möchte, dass du deine Pflicht erfüllst und morgen mit mir zu dieser Veranstaltung gehst! Was glaubst du, wie das wirkt, wenn ich da ohne meine Ehefrau erscheine? ...«

      Nach und nach tauchte Michael aus diesem unruhigen Schlaf auf. Er hatte das Gefühl, seinen Kopf aus einer zähen Masse herauszuziehen. Die Benommenheit wollte nicht weichen, und ständig drohte er, erneut in diesen Dämmerzustand hinabzugleiten. Die geträumten Szenen verfolgten ihn, blieben an ihm haften, und es erstaunte ihn, dass ein Traum solch klare Dialoge wiedergab. So seltsam vertraut kam ihm das Ganze vor, dass er fast glaubte, es selbst erlebt zu haben.

      Er wollte raus aus dieser nebulösen, nicht greifbaren Traumwelt. Er fühlte sich, als hätte man ihn mit verbundenen Augen gefesselt und geknebelt in unbekanntes Terrain ausgesetzt. Verzweifelt versuchte er, wie ein Ertrinkender, an der Oberfläche zu bleiben. Mit schierem Willen zwang er sich, die Benommenheit abzuschütteln. Er musste herausfinden, was mit ihm los war.

      »Ja, unbedingt!«

      Oh nein, jetzt hörte er wieder diese Stimme! Die Lage war auch so schwierig genug. Sicher war es nur ein Nachhall von den Träumen, beschwichtigte er sich.

      Sein Kopf fühlte sich zum Glück zunehmend klarer an, und er meinte, Geräusche um sich herum zu hören. Er konzentrierte sich darauf, und plötzlich nahm die Lautstärke zu, so als hätte jemand Watte aus seinen Ohren entfernt. Deutlich drang von der rechten Seite her ein rhythmisches Rauschen an sein Ohr. Bei genauerem Hinhören glich es eher einem gedämpften, unter einer Decke hervorkommenden Röcheln. Was verursachte dieses Geräusch? Er hatte keine Ahnung, in der Regel achtete er auf solche Dinge im Alltag nicht. Wie die meisten Menschen nahm er die Welt fast ausschließlich mit den Augen wahr. Absurderweise erinnerte es ihn an Darth Vader, den Bösewicht aus »Krieg der Sterne«, der beim Atmen durch eine Maske ein ähnlich klingendes Rauschen erzeugte. Es ärgerte ihn, dass ihm so etwas Banales einfiel.

      Mehr im Hintergrund, aber wesentlich nerviger hörte er einen gleichmäßig wiederkehrenden Piepston, wie ihn Müllautos von sich gaben, wenn sie rückwärtsfuhren. Lag er vielleicht zu Hause im Bett, war einer gerade grassierenden Grippe erlegen und wachte aus davon ausgelösten fiebrigen Träumen auf? Obwohl er sich nicht erinnern konnte, in den letzten vierzig Jahren je eine Erkältung gehabt oder geträumt zu haben. Zu diesen beiden Geräuschen gesellte sich ein Zischen und Stampfen, welches in ihm das Bild einer Maschine heraufbeschwor, die einen Mechanismus in Gang hielt.

      Inzwischen fühlte er sich hellwach, und die anfängliche Konfusion und Verwirrung waren verschwunden. Er war überzeugt davon, aus seiner Traumwelt aufgewacht zu sein, umso mehr irritierte es ihn, sie nicht einordnen zu können.

       »Außerdem träumst du ja nie!«

      Er erschrak! Kein Zweifel, die Stimme hallte deutlich hörbar durch seinen Kopf. Sie könnte genauso gut von einer Person sein, die neben ihm stand. Er glaubte sogar, einen höhnischen Unterton wahrzunehmen. Das konnte nur ein Fieberwahn sein!

      Michael überlegte, wann er ins Bett gegangen war und ob er sich zu dem Zeitpunkt krank gefühlt hatte. Nichts! Da existierte keine Erinnerung. Im Kurzzeitgedächtnis herrschte gähnende Leere. Wohingegen er genau wusste, dass er Michael Hallstatt hieß, dreiundfünfzig Jahre alt und verheiratet war sowie drei Kinder hatte. Letztendlich spulte er mühelos sein komplettes vergangenes Leben ab, bis auf die letzten Tage, die sich hartnäckig seinem Erinnerungsvermögen entzogen.

      Michael fielen Berichte von Menschen ein, die über Nacht einen Hirnschlag oder Schlaganfall im Bett erlitten. Hatte er sich mit seinen sechzig bis siebzig Arbeitsstunden pro Woche zu viel zugemutet, und die Vernachlässigung seines Körpers forderte nun ihren Tribut? Das würde erklären, weshalb es ihm nicht gelang, seine Gliedmaße zu bewegen. Er hatte immer wieder probiert, die Augen zu öffnen, den Kopf zu drehen und die Arme oder Beine anzuheben. Ohne Erfolg. Was war mit ihm passiert? Wie sollte er das herausfinden, wenn er noch nicht einmal unterscheiden konnte, ob er träumte oder wach war. Am Ende bildete er sich diese Geräusche genauso ein wie die Stimme, die er ab und an zu hören glaubte.

      In diesem Moment regte sich am Rande seines Bewusstseins ein Erinnerungsfetzen, narrte ihn wie eine winzige Mücke, die einem dicht vor dem Gesicht herumschwirrt und blitzschnell wegfliegt, so dass man vergeblich versucht, sie zu greifen. Frustriert gab er auf, ihm hinterherzujagen; er musste stärker