«Raphael», erwiderte Fridas Mitbewohner mit einem rauen Bass, der nicht recht zu seinen schlanken Händen und den schmalen Schultern passen wollte. Es war die Stimme eines reifen Mannes. Etwas verschlafen fuhr er sich mit den Fingern durch das helle Haar. Es machte den Eindruck, als wäre es eine alte Gewohnheit.
«Wir wollen gleich noch einen Kaffee trinken gehen», erklärte Elena und nickte beiläufig in Tonis Richtung. Damit zog sie ungelenk das Skript aus ihrer viel zu kleinen Handtasche. «Es wäre schön, wenn du diese Unterlagen Frida geben könntest. Sie ist nicht da im Moment, oder?»
Raphael nahm zögerlich den verlotterten Aktenordner entgegen, auf der eine große Karikatur von Sigmund Freud klebte. Der Psychoanalytiker paffte zufrieden an einem dicken Zeppelin. Einen Moment herrschte ein etwas verlegenes Schweigen.
«Ihr könnt auch gerne hereinkommen und hier bei uns euren Kaffee trinken», bot Raphael schließlich an. Es schien ein Vorschlag der Höflichkeit. Trotzdem nahm Elena das Angebot an, noch ehe Toni etwas hatte einwenden können. Ihr blieb daher nichts anderes übrig, als ein Lächeln aufzusetzen und ihrer Mitbewohnerin in die muffige Wohnung zu folgen.
Frida schien tatsächlich nicht da zu sein. Toni zog ihre Schuhe aus und blickte hinüber auf die geschlossene Zimmertür an der ein Poster von Roy Lichtenstein (eine weinende Pop-Art-Blondine) mit etlichen Klebestreifen befestigt war. Raphael trottete schon einmal in die Gemeinschaftsküche, um Wasser aufzusetzen. Er war barfuß und hatte staubige Sohlen. Elena folgte ihm eilig den Flur hinab und klopfte im Vorbeigehen flüchtig an Fridas Tür. Sonderlich beherzt ging sie dabei jedoch nicht zu Werk und Toni beschlich das dumpfe Gefühl, dass es Elena ganz gelegen kam, einmal ungestört mit Fridas neuem Zimmernachbar zu sein. Immerhin hatte sie Toni gegenüber schon einige Male angedeutet, dass sie Raphael recht interessant fand. Und trotz aller Freundschaft war es nun einmal Fridas Art, sich bei jeder Gelegenheit freimütig und ein wenig vorlaut in den Vordergrund zu drängen. Es stellte sich nur die Frage, was Toni selbst dann in der Wohnung verloren hatte an diesem späten Freitagnachmittag. Sie würde ja doch nur stören. Einen Moment blieb sie also allein im Flur zurück und überlegte, unter welchem Vorwand sie sich möglichst rasch und unauffällig würde davon stehlen können. Ohnehin wartete daheim eine Gleichung auf ihre Lösung. Dann jedoch verwarf sie den Gedanken. Was hätte sie schon sagen sollen?
Es war ungewohnt ruhig in der WG. Offenbar war auch der dritte Mitbewohner nicht zu Hause.
Tonis Blick fiel auf einige Spinnweben an der Zimmerdecke. Vermutlich hatte schon seit Jahrzehnten niemand mehr eine Leiter zur Hand genommen, um dort oben zu putzen. Andererseits war die WG auch anderweitig nicht gerade im besten Zustand. Es handelte sich um eine düstere Altbauwohnung mit fleckig-bunten Wänden und wuchtigen alten Türen, von denen der Lack abblätterte. Auch die große Shisha und eine gruselige Porzellanfigur mit Räucherstäbchen im Rücken konnte den verlotterten Eindruck nicht in ein alternativ mystisches Ambiente verkehren.
«Mit dem Kaffee ist es so eine Sache», erklärte Raphael, als Toni die Küche betrat. «Wir haben hier lediglich eine dieser ominösen Espressokannen, die man direkt auf den Herd stellt.» Er hob die Schultern ohne die Hände dabei aus den Taschen zu nehmen. «Ich selbst bescheide mich mit billigem Instantpulver. Aber ich nehme nicht an, dass das euren Geschmack trifft.»
Elena schüttelte den Kopf, öffnete dann bereits einen der Oberschränke. Offensichtlich kannte sie sich aus in der fremden Küche. Sie musste sich ziemlich strecken, um die Kanne hinunter zu holen. Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich in ihrem Gesicht. «Für dich einen Tee, oder?», fragte sie dann Toni, die zögerlich nickte und sich an den schmutzigen Tisch setzte.
Mit wachsendem Misstrauen beobachtete Toni, wie ihre Freundin die folgenden Minuten mit Wasserkocher, Espressopulver und Teebeutel hantierte. Raphael dagegen hatte sich lässig auf einen der Klappstühle fallen lassen. Toni war sich nicht sicher, ob er sehr müde war oder generell eine derartig schlaffe Körperhaltung besaß. Jedenfalls saß er ungehörig breitbeinig und es war ein Wunder, dass er nicht gänzlich unter den Tisch rutschte. Das Skript lag vor ihm und er zog es nun mit einem einzigen Wischen zu sich heran.
«Studierst du auch Psychologie? Mit Frida und Elena zusammen?», fragte er und blätterte achtlos den Aktenordner durch. Er schien nicht wirklich an einer Antwort interessiert und Toni überlegte, was wohl geschähe, wenn sie einfach nicht antworten würde auf seine Frage oder gar eine unehrliche Antwort gäbe. Natürlich hätte sie sich das niemals getraut. Aber der Gedanke beschäftigte sie. Sie fragte sich auch, ob Elena sie dann verraten oder ob sie wohl mitgespielt hätte.
«Toni studiert Physik», erklärte Elena in das Schweigen hinein, noch ehe Toni sich zu einer Erwiderung hatte überwinden können. So wie sie es sagte, klang es irgendwie falsch. Dennoch nickte Toni zögerlich.
«Also hast du's eher mit den Fakten und Formeln?», kommentierte Raphael nun in beiläufigem Ton und schenkte ihr ein fahles Lächeln.
Etwas an seiner lässigen Körperhaltung erweckte Tonis Missbehagen. Sie wusste auch nicht, was sie erwidern sollte auf seine Frage hin. Deshalb hob sie gleichmütig die Schultern. Elena füllte währenddessen die beiden Kaffeetassen.
«Milch? Zucker?»
Toni fand, dass ihre Freundin ein wenig zu dick auftrug in ihrer Rolle als Serviermädchen, nahm jedoch dankend ihre Tasse entgegen.
«Raphael studiert VWL und Philosophie», erklärte Elena, als sie sich zu ihnen beiden an den Tisch setzte.
Raphael nickte und sie setzte hinzu: «Erst hat er in Berlin studiert, dann in London und jetzt ist er für den Master hierher nach Heidelberg gekommen.» Sie schien sich nicht ganz sicher, worauf Raphael ein weiteres Mal bestätigend nickte und sich durch das Haar fuhr.
«Momentan leide ich ein wenig unter einem Kleinstadt-Koller», bemerkte er und rang sich ein Lächeln ab.
Elena nickte und verdrehte vielsagend die Augen. «Nach ein paar Wochen kennt man die Stadt in- und auswendig und sieht überall die selben Gesichter. Das kann schon wirklich nervig sein.»
Einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen und Toni nahm betreten einen Schluck ihres heißen Tees. Sie verbrannte sich die Zunge dabei.
«Du hast Glück gehabt mit der Wohnung», wechselte ihre Mitbewohnerin dann das Thema und fügte hinzu: «Es ist nicht selbstverständlich, hier in der Altstadt eine halbwegs anständige WG zu finden. Es gibt da die schauerlichsten Geschichten.» Schon stimmte sie eine ihrer wilden Anekdoten an. Es war die Erzählung vom unheimlichen Fremden, der eines schönen Morgens im eignen Zimmer stand, wenn man erwachte. Da schlug man müde die Augen auf und blickte in ein fremdes Gesicht, wurde angestarrt von blutunterlaufenen Augen. Der One-Night-Stand einer Mitbewohnerin, der des Nachts die Orientierung verloren hatte.
Elena besaß einiges erzählerisches Geschick. Im Komischen, wie im Tragischen. Dann imitierte sie gekonnt fremde Stimmen und Dialekte, spielte mit Worten und Gesten und sprühte vor Witz und Charme. Sie verstand es, im rechten Moment eine dramatische Pause einzulegen oder wild zu übertreiben und ihrem Zuhörer ein listiges Augenzwinkern zu schenken. Es war durchaus bewundernswert. An diesem Nachmittag jedoch stand Toni nicht der Sinn nach derlei Unterhaltung. Sie entschuldigte sich daher beiläufig und entschwand mit ihrer Teetasse hinaus auf den Balkon. Man musterte sie einen Moment irritiert, verlor dann jedoch rasch das Interesse.
Die heiße Tasse in den Händen blickte Toni in den grauen Himmel hinauf. Der Graupel fiel wie winzige Styroporkügelchen, die sich in ihren wirren Haaren und ihrem Wollpullover verfingen.
Es schneite selten in Heidelberg, seltener jedenfalls als im Alpenvorland, wo Toni aufgewachsen war. Sie vermisste den Schnee manchmal ein wenig, der sie an heitere Kindertage erinnerte. An ihren Bruder Robert und ihren gemeinsamen Schlitten, seine ungestüme Begeisterung für das Skifahren, wenn sie beide schweigend nebeneinander im Bügellift gehangen hatten und er unüblich brüderlich den Arm um sie gelegt hatte. Als könne ihr nichts zustoßen, solange er nur bei ihr wäre.
Der spärliche Schneefall jedenfalls hatte sie hier hinaus in die Kälte gelockt.