E. K. Busch
Vom Hohen und Tiefen und dem Taumel dazwischen
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Inhaltsverzeichnis
6. Februar - Vom Blick durch Glas
20. Februar - Von einer Blume in der Wüste
17. April - Von Fragen und Antworten
21. April - Vom blinden Narren
24. April - Vom Hohen und Tiefen
16.Oktober - Von gefallenen Papageien
13. Januar - Von den Naturgesetzen
25. Januar - Vom Taumel dazwischen
6. Februar - Vom Blick durch Glas
«Hast du's dir überlegt?», fragte Elena und klopfe mit ihren Fingerknöcheln gegen die geöffnete Zimmertür.
Antonia saß an ihrem Schreibtisch und war vergraben in einem Chaos von Papieren. Kurz zögerte sie, dann legte sie ihren Stift beiseite und drehte sich um zu ihrer Mitbewohnerin.
Elena hob bereits ungeduldig die roten Augenbrauen. «Ein bisschen frische Luft würde dir sicherlich nicht schaden». Sie schlüpfte in ihre Pumps.
Toni schien noch immer in Gedanken und machte einige eilige Notizen, ehe sie sich gänzlich erhob. Ihr Blick haftete fest an einem der zahlreichen Zettel. Erst einen ganzen Augenblick später schnürte sie ihre abgewetzten Winterstiefel und schlüpfte in ihren grauen Mantel.
Man befand sich bereits im Treppenhaus, als Elena einräumte: «Vielleicht können wir auf dem Weg noch kurz bei Frida vorbeischauen. Ich muss ihr noch ihren Ordner zurückgeben. Es dauert auch nicht lang. Versprochen. In zehn Minuten sitzen wir gemütlich in irgendeinem Café.» Die Absätze ihrer Schuhe erzeugten ein rhythmischen Klicken und Poltern auf jeder der Treppenstufen. Es war, als tanzte sie auf einem knarzenden Instrument.
Toni nickte, ihre Aufmerksamkeit galt allerdings den Geräuschen des alten Hauses. Sie mochte seinen Klang. Das Knarren der Treppe, ebenso wie das Rauschen der Rohre, die wie krumme Eingeweide in den Wänden verliefen und etwas gelbliches Wasser in die ramponierten Waschbecken spien. Sie mochte es, wie das Gemäuer erzitterte, wenn ein LKW das Haus passierte, und wie der Wind im Herbst um seine Ecken pfiff. Ihr Zimmer lag ebenso wie Elenas und die Zimmer der beiden übrigen Mitbewohnerinnen im dritten und obersten Stock. Dort war dieses Pfeifen des Nachts besonders gut zu hören, ebenso wie das Scharren der Straßentauben, die es sich in den Dachrinnen bequem machten. Auch wenn Elena den ungebetenen Gästen den Kampf angesagt hatte und hin und wieder wild lärmend mit der Handfläche gegen die Fensterscheiben schlug, dass diese zu bersten drohten.
Auf der Straße ging ein kalter Wind und die beiden Mädchen sortierten ihre Mäntel. Toni holte ihre Mütze aus der ausgebeulten Manteltasche und zog sie sich tief über die Ohren. Die dunklen Locken verschwanden unter der filzigen Wolle.
«Ich hasse den Winter. Er ist einfach grauenhaft», erklärte Elena und stopfte ihren Kaschmirschal eilig in den Ausschnitt ihres Mantels aus hellem Tweed. Derartige Übertreibungen waren ganz ihre Art. Sie trug diese mit einem sphinxenhaften Lächeln vor, das nicht verriet, ob sie es ernst meinte oder nicht. Vielleicht konnte sie sich diesbezüglich selbst nicht ganz entscheiden.
Elena schwankte und tänzelte über das Kopfsteinpflaster in ihren hohen Schuhen. Die roten Haare flatterten. Dagegen kam sich Toni recht ungelenk vor. Tatsächlich war sie einen guten Kopf größer als Elena, ihr Schritt energisch und ein wenig steif. Der lange Mantel unterstützte noch diesen Eindruck. Er besaß einen kastenförmigen Schnitt, der sicherlich einmal sehr modisch gewesen war, jedoch auch etwas maskulin daherkam. Ihre Mutter hatte ihn kürzlich ausrangiert. Vor allem aber besaß Elena diese zarten Züge wie aus Elfenbein und war von einer mädchenhaften Gestalt, die sie durchaus in Szene zu setzen wusste in ihren flatternden Röcken und Blusen. An Toni dagegen war nichts Zartes oder Mädchenhaftes zu finden. Zwar war sie schlank und großgewachsen, doch fand sich ihr Körper in einem seltsamen Ungleichgewicht. Denn während sie einen hageren Oberkörper besaß mit muskulösen Armen und kantigen Schultern, folgte unterhalb ihres Bauchnabels der ausgeformte Körper einer Frau mit einem prallen Hintern und strammen Schenkeln. Sie kam nicht an gegen diese Fleischlichkeit, die ihr in ihrer üppigen Schwere zuwider war. Ihr Bauchnabel bildete, wie Toni fand, wenn sie ihren nackten Körper im Spiegel betrachtete, die Demarkationslinie zwischen dem, was ihr gefiel, und dem, was ihr nicht gefiel. Weil es weich war, warm und weibisch.
«Ich glaube, die Pause tut mir ganz gut», erklärte Toni nach einer Weile und blickte in den grauen Himmel hinauf. «Ein bisschen frische Luft und ein paar andere Gedanken.»
«Die Pause?», hakte Elena ungläubig nach. «Soll das etwa heißen, dass du dich nachher nochmal an den Schreibtisch setzen willst? Am Freitagabend?» Sie schüttelte den Kopf auf Tonis beschämtes Schweigen, setzte dann in gespielter Beleidigung hinzu: «Wenn du deinen Abend lieber mit deinen Formeln verbringen magst, dann bitte! Lisa und ich können auch ohne dich ins Kino gehen.»
Toni hob entschuldigend die Arme, so als hätte sie in dieser Angelegenheit keine große Wahl. Ohnehin war sie keine Freundin von Komödien, noch weniger von romantischen Komödien. Ihr Verhältnis zu Lisa war zudem nicht sonderlich eng. Zwar wohnte sie mit Lisa genau wie mit Pauline und Elena schon seit etwa drei Jahren zusammen, aber das allein sorgte anscheinend nicht in jedem Fall für ein inniges Verhältnis. Der kameradschaftliche Umgangston konnte nicht über eine gewisse Distanz hinwegtäuschen. Oder anders ausgedrückt: Man hatte sich nicht das Geringste zu sagen. Lisa, die laut und lustig war, gesellig und herzlich, mochte diesen Umstand geschickt überspielen können, aber Toni fürchtete stets, eines dieser beklemmenden Schweigen zu provozieren in ihrer steifen und unbeteiligten Art.
«Ich jedenfalls werde das ganze Wochenende keinen Finger krumm machen für die Uni. Glaub' ja nicht, dass mir dein Fleiß da ein schlechtes Gewissen macht. Ich bin eine Meisterin der Verdrängung.» Damit drückte Elena bereits den Klingelknopf, der zu Fridas WG gehörte und gelegentlich nach einem undurchsichtigen Muster streikte.
An diesem späten Nachmittag war das schrille Läuten jedoch bis auf die dunkle Gasse hinunter zu hören. Kurz darauf meldete sich eine rauschende Männerstimme.
Toni folgte ihrer Mitbewohnerin die Treppe hinauf. Sie war mit Elena schon einige Male bei Frida gewesen. Immerhin waren diese seit ihrem ersten Semester «beste Freundinnen». Sie bezeugten dies immer wieder in Worten, dem Erzählen lustiger Anekdoten und dem Austausch kleiner Geschenke. Es war ein Verhalten wie es Toni nur von kichernden Dritt- oder Viertklässlerinnen erwartet hätte. Raphael, Fridas neuen Mitbewohner, hatte Toni bislang nicht kennengelernt. Er war erst vor ein paar Wochen eingezogen und entpuppte sich als mittelgroß und ausgesprochen feingliedrig. Er hatte