In der nächsten Nacht gibt es große Aufregung bei den Geldscheinen in der Küchenvitrine, denn es gibt sonderbare Geräusche in der Wohnung. Möglicherweise ist das Sascha, aber sehen können die Geldscheine nichts, weil es stockfinster ist und die Vitrine außerdem geschlossen ist. Irgendwo fällt ein Teller und zerbirst am Fußboden in tausend Scherben. Dann ist es wieder still.
Morgens entdeckt Elisa, dass ihr Kätzchen Pinky in der Nacht auf Wanderschaft war, aber Elisa tröstet Pinky, weil die Schmusekatze sich sehr erschreckt haben musste. Sam ist auch froh, dass es eine so einfache Erklärung für die nächtliche Aufregung gibt.
Schmutziger Mann
Am Donnerstag kommt dann der Rauchfangkehrer und säubert den Kamin. Er ist dabei sehr behutsam, Elisas Wohnung nicht zu verschmutzen. Als er fertig ist, bringt er Elisa noch einen Kalender und gute Wünsche für das nächste Jahr. Elisa geht zum Küchenschrank und überlegt, wie viel Trinkgeld sie dem guten Mann geben soll. Sie nimmt das Kuvert ‚Reserve‘ aus dem Schrank zieht mit Daumen und Zeigefinger Sam aus den Geldscheinen heraus. Sam sieht den schwarzen Mann und das gefällt ihm gar nicht. Der hat nicht nur schmutzige Fingernägel, der ist komplett schmutzig, ganz schwarz! Sam zittert am ganzen Körper und dabei entgleitet er Elisas Händen und fällt zu Boden. Diese Chance nützt Sam und durch die Luftströmung im Fallen rotiert er einige Male, segelt hin und her und – gleitet unter die Küchenkredenz, wo er sich hinter einer alten Schachtel mit Einsiedegläsern, die dort verstaut ist, versteckt. „Hast schon Recht“ murmelte Elisa und dann wisperte sie noch „ein 10er tut es auch“ und nimmt einen 10 Euroschein heraus, den sie dem Rauchfangkehrer gibt. Während sich der Rauchfangkehrer höflich bedankt, denkt Sam daran, dass dies ganz schön knapp war. Immerhin ist er ja fast noch ein Neugeborener, keinen Monat alt und da will er wirklich nicht zu einem solchen schwarzen Mann.
Da Elisa Sam nicht auf dem Boden liegen sieht und auch dessen Versteck nicht entdeckt, beschließt sie, an einem anderen Tag nach Sam zu suchen, denn das Bücken fällt ihr schon schwer.
Sam erlebt in den nächsten Wochen, wie Elisa immer wieder eine Rechnung bezahlt und einkaufen geht. Die Geldscheine in der Küchenvitrine werden immer weniger. Jetzt weiß Sam, wie sich die Geldscheine fühlen, die in irgendeinem Sparschwein für lange Zeit verschwinden. Einerseits in Sicherheit, andererseits aber auch vernachlässigt, was nahe an ungeliebt herankommt.
Das Fundstück
Am letzten Samstag im Monat kommt Julia zu Besuch. Sie schaut kurz vor Monatsende regelmäßig vorbei, weil sie weiß, dass ihre Mutter mit der kargen Pension nur knapp auskommt, und dann bringt sie immer etwas mit. Damit es nicht so auffällig und beschämend ist, kommt sie vorbei, um Elisa ein bisschen beim Aufräumen zu helfen, weil Elisa eben nicht mehr die Jüngste ist, und da ist eine helfende Hand stets ein willkommener Gast.
Heute säubert Julia alle Böden, saugt und wischt überall und macht dies natürlich auch unter der Küchenvitrine, wo sie Sam entdeckt. Elisa erinnert sich wieder an den verschwundenen Geldschein und freut sich über den plötzlichen, unerwarteten Reichtum zum Monatsende. Natürlich weiß sie, dass man damit kein Königreich kaufen kann, aber wenn man damit nicht mehr rechnet, ist dies ein wertvolles Geschenk für einen bescheidenen Menschen. Sam fühlt sich wie ein kleiner Held, vor allem weil er Elisa eine kleine Freude bereiten kann, nein, er selbst ist in diesem Moment die Freude. Sam vergisst ganz, dass er 20 Mäuse wert ist und fühlt sich mindestens wie ein ‚grüner Hunni‘. Dass es so kommen muss, ist Sam natürlich nicht klar, denn noch kennt er die Gesetzmäßigkeiten des Geldes nicht, er ist ja fast noch ein Baby, jedenfalls befindet er sich noch in der angeborenen Unschuld.
Ein paar Tage später kommt Julia überraschend erneut auf Besuch. Sie wirkt aufgeregt, nervös und kommt auch schnell zur Sache. Sie gesteht Elisa, dass der Schlüssel zu Elisas Wohnung verschwunden oder verloren ist. Zwar glaubt sie, dass sich der Schlüssel bestimmt bald wieder einfinden wird, aber zur Sicherheit „solltest du dir noch ein Sicherheitsschloss einbauen lassen“ meint Julia.
Elisa scheint dies nicht zu beunruhigen, während Sam ziemlich nervös wird, denn er ahnt schon, bei wem der Schlüssel sich momentan aufhält. Elisa will die Situation beruhigen, tapst Julia zärtlich auf die Hand und sagt ihr, dass sie sich keine Sorgen machen soll. „Er wird sich schon wieder finden!“
Dann wechselt Elisa zur Ablenkung das Thema. „Sag mal Julia. Was soll ich denn mit meinem neuen Reichtum machen, den 20 Euro, die wir gefunden haben?“ Julias Antwort führt aus, dass man solches Geld zum Teil für sich selbst, aber auch zum Teil für andere ausgeben soll. „Wenn einem Gutes zuteil wird, dann soll man auch an die anderen denken, die nicht das Glück haben“, erklärt Julia den Gedanken. Sam spürt sofort, dass dies eine perfekte Antwort ist und dass er es nicht besser hätte ausdrücken können. Genauso empfinden es auch die anderen wenigen Geldscheine, die noch in der Küchenvitrine sind.
Elisa überlegt, ob sie vielleicht mit dem netten Cellisten vom 4. Stock auf Kaffee und Kuchen gehen soll. Dann aber sagt sie zu Julia: „Vielleicht sollte ich es Sascha für seine neuen Sportschuhe geben?“ und während sie dies ausspricht, fällt ihr auf, dass Sascha sich seit dem letzten Gespräch nicht mehr bei ihr gerührt hat, aber...
Der Vertreibungsvirus
Bevor sie den Gedanken noch zu Ende gebracht hat, steigen Tränen in Julias Augen auf und kullern dann blitzartig über die Wangen. Julia kann es einfach nicht mehr für sich behalten. Sie schluchzt und heult los, sodass Elisa zunächst keines ihrer Worte verstehen kann. Nach ein paar Minuten beginnt sie nochmals zu erzählen:
„Sascha ist verhaftet worden! Er hat einigen Leuten angeboten, ihnen Drogen zu besorgen, nur müssten sie ihm dafür die Hälfte der Summe zur Anzahlung geben. Sascha nahm das Geld und kaufte sich die verdammten Sportschuhe. Die Leute, die um ihr Geld geprellt wurden, gingen zur Polizei und zeigten Sascha an. Da er nicht gerade unauffällig aussieht, haben sie ihn bald gefunden. Er sagt, dass er gar keine Drogenleute kenne, aber das glaubt ihm natürlich niemand. Sascha ist in Untersuchungshaft und wird wahrscheinlich zu ein, zwei Jahren Gefängnis verurteilt.“ Danach weint sich Julia die Seele aus dem Leib und Elisa nimmt sie sanft in die Arme.
Sam hat ja einiges erwartet, aber dies übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen. Er weiß, tief in seinem Innersten, das es jetzt Zeit wäre zu gehen, denn dies ist kein Ort der Harmonie mehr. Dies ist Sams erste Erfahrung mit dem Vertreibungsvirus, der Geldscheine zum Aufbruch in ein neues Zuhause mahnt. Zwar hat Sam großes Mitleid mit Julia und Elisa, aber die rabenschwarzen Schwingungen sind für ihn unerträglich.
Julia übernachtet schließlich bei Elisa, da in ihrem zuhause ohnehin niemand mehr auf sie wartet und geht am nächsten Morgen von hier aus zur Arbeit. Ihre verheulten Augen hat sie mit Makeup kaschiert, doch innerlich ist sie völlig geknickt, weil ihr Familienleben ein einziges Trümmerfeld ist. Der Sohn in Haft, der Ehemann mit einer jüngeren abgetaucht, das ist ihr einfach zu viel.
An der Endstation
Elisa hat nun eine Idee, was sie mit ihrem kleinen Schatz machen wird. Sie zieht sich an, geht zur Straßenbahn und fährt mit dieser bis zur Endstation. Nun muss sie noch einen knappen Kilometer zu Fuß gehen. Zuvor geht sie bei der Endstation in ein Geschäft mit dem Namen „Blumenparadies“. Dort nimmt sie Sam aus der Handtasche, legt ihn auf das Pult und sagt: „Ich möchte den schönsten Blumenstrauß, den sie mir dafür kreieren können“.
Es dauert nur kurz und Elisa erhält von der Verkäuferin Hertha einen prachtvollen Blumenstrauß. Hertha hat es nicht so mit dem scharfen Kalkulieren. Ihr ist viel wichtiger, dass die Menschen eine große Freude damit haben, und so ist der Strauß auch viel wertvoller als 20 Euro, wodurch sich Sam total aufgewertet fühlt.
Elisas Augen leuchten