Kein Bürgergeld, Miete zahlen, keine Zeit zum Nachdenken – muss ein Alptraum gewesen sein, das Leben damals... Die Tür fiel hinter ihnen zu.
Nach dem Frühstück und Tai-Chi fühlte sie sich unglaublich aufgetankt, fast high. ‚Leben’ hatten sie jetzt, in der Zweiten und Dritten, danach Mathe und Englisch. Früher war ‚Leben’ ja ein Synonym für ‚Arbeiten’ gewesen. Das war echt eine andere Welt. Heute hieß ‚Leben’ einfach ‚leben’. Also: Wie man so lebt, dass man sich lebendig fühlt. Momentan ging es um Kinder. Kinder kriegen, von Kindern lernen, mit Kindern leben. In der Oberstufe waren alte Leute dran, und ‚Mit allen Sinnen denken’, was auch ziemlich ziemlich interessant klang. Alle versammelten sich jetzt kleckerweise auf dem Hof. Die durchgeknallte Schwarz stand auf der obersten Treppenstufe. „Also, Zuspätkommen geht!“ schrie sie jetzt, und das Gemurmel verstummte, weil alle sie irgendwie mochten und Respekt vor ihr hatten. Durchgeknallt war Schwarz nicht allein, weil sie früher eine Frau namens Rosa gewesen und außerdem zum Islam konvertiert war. Durchgeknallt vielmehr, weil sie einfach durchgeknallt war. Auch dieses Wort hatte einen Bedeutungswandel durchgemacht. Früher hatte das mal ziemlich abwertend geklungen. Heute war es etwas ziemlich Positives. Schwarz war fast wie Uroma. So spontan, kreativ und witzig zu sein, einen dermaßen weiten geistigen Horizont zu haben – ohne dabei ein desorientierter Schizo zu werden, das musste Schwarz erstmal wer nachmachen. Früher wurden solche Leute Säufer, weil die Gesesellschaft ihnen null Respekt zollte. Hatte Oma erzählt, die ihre islamische Religion allerdings von der Säuferkarriere abgehalten hatte. Heute war es umgekehrt, es gab keine einseitige Definition von psychischer Gesundheit oder Lebensfähigkeit mehr. Stattdessen konnten sich kreative und spirituelle Menschen der Achtung aller sicher sein, das half sogar bei der Jobsuche.
Schwarz war heute barfuß, weil das erdete. In der Zweiten oder Dritten hatten sie das gelernt, und Schwarz zog das fast den ganzen Sommer über durch. Dazu trug er ein Niqab, dieses Gesichtsschleierding, denn ein bisschen fühlte er sich wohl immer noch als Frau und manchmal kam man echt mit den Personalpronomen und ‚Herr’ und ‚Frau’ durcheinander, aber das war okay für ihn. Er fühle sich gut mit dem Niqab, hatte er mal erklärt. „Also, noch mal. Zuspätkommen geht, wisst ihr ja. Wir treffen uns in ungefähr 30 Minuten wie üblich und warten dann noch ein bisschen. Aber wehe, ihr habt kein Kind dabei!“ „Meine Nichte ist aber gestern vom Sofa gefallen. Die kann nicht!“, rief Bubu von hinten und einige lachten. „Hast du nur eine, oder was?“, fragte Schwarz etwas genervt. Manchmal war es echt nervig, wenn man verächtliche Untertöne bei den Lehrern raushörte, weil eine Familie nur wenige Kinder hatte. Da stieß die Toleranz selbst aufgeschlossener Leute gelegentlich an ihre Grenzen. Schließlich war es eine persönliche Entscheidung, ob man Kinder wollte oder nicht und außerdem war Kinderlosigkeit ja auch nicht immer freiwillig! „Egal. El-Haidari leiht dir eins, stimmt’s, El-Haidari?“ „Geht klar“, entgegnete El-Haidari, „Eva hat gestern eh Stress gemacht, weil sie unbedingt mit wollte.“ Fast alle Kinder liebten es, mit den Großen zusammen Geschichten zu erfinden oder im Wald Baumhäuser zu bauen.
To be continued. In Gedanken, schriftlich oder im realen Leben.
Text von Anja Hilscher
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