Linden Fiction 2050 - Utopien zur Stadtteilentwicklung. Rengin Agaslan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rengin Agaslan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737575898
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zur Kenntnis, tummelten sich ein weißer Hai und eine Superkrake. Ahmed glaubte ein altes Kirmesfahrgeschäft erkennen zu können, das wohl noch aus Opas Zeiten stammen musste. Es erinnerte ihn daran, wie er früher mit Opa zum Schützenfest gegangen war. Opa erzählte gerne, dass es in seiner Kindheit noch Lose aus Papier gegeben hatte, und auf den Pflastersteinen vor den Losbuden war alles voll von diesen bunten Schnipseln gewesen. Eine Vorstellung, die Ahmed faszinierte, ihn seit eh und je nostalgisierte. Diese öden E-Lose, die automatisch auf dem Smartphone generiert wurden und ebenso automatisch das Geld vom QuickPay -Konto einzogen. Ziemlich unromantisch. Hatte man mal einen Losgewinn, konnte der an den sterilen Schaufenstern des Los-Automaten eingelöst werden. Meist jedoch poppte auf seinem Display so ein altmodischer Smiley auf, der eigentlich immer traurig dreinschaute, darunter ernüchternd in Großbuchstaben: NIETE. »Manche Dinge ändern sich nie«, sagte Opa dann. Seit der Rummel gar nicht mehr aufhörte und zu einem ganzjährigen Event geworden war, hatte es sich für Ahmed ausgerummelt, zumindest im realen Leben. Ahmed und seine Jungs rammten sich ab und zu beim Cyber-Scooter oder erstellten bei 3rD Life ihren ganz eigenen Vergnügungspark, Serge war in solchen Dingen ein richtiger Crack. Ahmed aber war am liebsten offline. Und natürlich Offlíhme . Bei MyFace war er eigentlich nur wegen Nori. Nur war Nori nicht mehr bei MyFace . »Analog ist besser« stand auf einem ihrer Shirts. Nori mochte schon immer Teil einer Jugendbewegung sein.

      Ahmed lief die Zeit davon. Er hatte von Pablo erfahren, und der hatte es von Stella, das war die kleine Schwester von Ida, und Ida war die beste Freundin von Nori, dass Nori im nächsten Schuljahr vielleicht mit ihren Eltern nach Schweden ziehen würde. Wegen eines Jobangebots oder so. Pablo meinte schon: »Such dir ’ne andere, wir reißen zusammen eine für dich auf«. Aber für Ahmed kam das null in Frage. Lieber wollte er auf Nori warten. Ohne dass die beiden jemals Worte gewechselt hatten, Unterrichts-gespräche klammerte er aus, spürte Ahmed eine tiefe Verbindung zu Nori, die er weder in Worte fassen, noch sich selbst, geschweige denn seinen Jungs, erklären konnte. Er fühlte sich zu ihr hingezogen wie das Meer zum Mond. Dabei war Nori nicht einmal übermäßig hübsch oder gar ein Hingucker. Ihre kupferroten Haare waren fisselig und eigentlich aschblond, am Kinn war ein ovales Grübchen, das Gesicht leicht asymmetrisch, ihre Nase war etwas zu groß und hatte einen zarten Huckel auf Höhe der Augen. Doch nicht irgendwelche Augen! Die dunkelsten, funkelndsten Mandelaugen! Mit ihren sinnlichen Lippen, perfekten Zähnen und dem ovalen Grübchen am Kinn formten sie das allerschönste Lächeln, das sich Ahmed nur vorstellen konnte. Bereits der kleinste Gedanke daran ließ Ahmeds Handflächen klamm werden.

      In der Lenz Bar tropfte seit jeher der Schweiß von der Decke. Die Fensterfront dauerbeschlagen, der Putz peekig wie eh und je, dennoch zwängten sich zweihundert Menschen in den rappelvollen Laden, um das Comeback von U3000, dieser blendend gealterten Ü60-Popsternchen, nicht zu verpassen. Nori lehnte hinten an der Wand und Ahmed hatte allein Augen für sie. Und obwohl die lange ergrauten Groupies, die zwischen Ahmed und Nori herumstanden, beharrlich mit ihren Köpfen nickten, als wollten sie Ahmed mit all ihrer Lebenserfahrung Mut zusprechen, brachte er in Noris Gegenwart kein Wort über die Lippen. »Die Schlangen auf dem Boden sind alle ohne Gift / Oh, bitte frag' mich nicht, woher ich weiß, dass das so ist.« U3000 übernahmen das Kommando. Synchroner Gesang. Wie aus Ahmeds Seele: » Du bist so wunderschön / Ich kann es mit meinen Augen sehen / Mädchen, tanz mit mir!« Stattdessen sah er sein Mädchen kurz darauf gehen. Nahm es wortlos zur Kenntnis. Und blieb bis zur allerletzten Zugabe.

      Später erwartete ihn eine noch viel schönere Zugabe: Wie ein Wunder entdeckte er sie im Offlíhme . Ihre kupferroten Haare waren selbst im dichtesten Disco-Nebel nicht zu übersehen. Wie eine Fee tanzte sie zwischen den Betonpfeilern. Und wenngleich der Klub aus allen Nähten platzte, bildete sich um Nori ein kleiner, nahezu magischer Kreis, als würde sie einen unsichtbaren Riesen-Hula-Hoop-Reifen um sich schwingen. Ahmed drängelte sich zu ihr vor. Der Bass wummerte so laut, dass ein Gespräch sowieso unmöglich war. Könnte er doch nur besser tanzen! Mit ihr tanzen im Beton. Er wollte rufen: » Mädchen, tanz mit mir! «. Aber ihre Anmut entmutigte ihn. Schwerfällig wie ein Orang-Utan kam er sich vor, neben ihr würde er sich zum Affen machen. Plötzlich fasste sie seine Hand, tanzte ihn an. Ihre Hand war verschwitzt, oder war es seine? Unsicher ließ er die Hand wieder los, versuchte seine Hüfte zu bewegen. Fühlte sich unbeholfen, seine Beine schwer wie Beton. Steif beugte er sich rüber zu ihr, spürte ihre warme Haut. Sog ihre vanillige Duftnote ein. Er war ihr jetzt so nah, dass er ihr Ohr hätte küssen können. Wie aus der Kanone geschossen kam seine Frage: »Kommst du mit?« Und genauso unvermittelt hörte Nori auf zu tanzen und folgte ihm zum Treppenhaus.

      Und nun saßen sie da. Schüchtern. Am Ihmeplatz 8. Und schwiegen.

      »Hat dir das Konzert gefallen?« Ahmeds Gesprächseinstieg war denkbar ungelenk.

      »Ja, sehr.«

      Die beiden starrten auf die Ihme. Bloß keine falsche Scheu, mahnte sich Ahmed. Nächster Versuch:

      »Hast du das Buch schon gelesen?« Ahmed biss sich auf die Unterlippe. Es war Freitagnacht, zwischen vier und fünf Uhr morgens, er war endlich mit Nori allein, Nori vielleicht bald fort, und ihm fiel verdammt nochmal nichts Besseres ein, als über die Schule zu reden?

      »Ja, das ist echt interessant. Aber wieso müssen wir jetzt auch in Politik Romane lesen?«

      Ahmed hatte keine passende Antwort parat. Zum Glück redete Nori direkt weiter:

      »Unser Lesepensum ist ja krasser als im Germanistik-Studium. Meinte zumindest meine Ma kürzlich.«

      »Hmmm«, überlegte Ahmed, »sagte die Clemens nicht was von Orwells 100. Todestag?«

      »Reicht es nicht, dass unsere Schule nach ihm benannt ist?« erwiderte Nori. »Sag mal, hast du dir schon Gedanken über das Projekt gemacht?«

      Ahmed zuckte die Schultern. »Woher sollen wir wissen, was in 35 Jahren sein wird? Wir können doch nicht hellsehen.«

      »Ach, Achim, dir wird schon was einfallen. Du bist doch sonst so ein helles Köpfchen. Außerdem«, korrigierte Nori ihn, »34 Jahre. 2084.«

      »Ich wusste gar nicht, dass du so förmlich bist.«

      Nori verstand nicht gleich, was Ahmed meinte.

      »Ich mein, äh, wegen Achim«, stotterte Ahmed. »Nenn mich einfach Ahmed.«

      »Ach so«, lachte Nori, und Ahmeds Herz überschlug sich fast, »selbst die Clemens nennt dich ja mittlerweile Ahmed. Also, Ahmed...« Sie streckte ihm die Hand entgegen, entzückend ihr strahlendes Lächeln, es schien, als hätten sich die beiden eben erst kennengelernt.

      Wieder gewann sein Herz die Oberhand, wieder sprudelte es aus ihm heraus: »Kommst du mit hoch?«

      Wieder fragte Nori nicht nach. »Na los!«

      Der Rest der Nacht war Achims Erinnerung entschwunden. War unwiderruflich aus der Cloud gelöscht worden, ohne Zwischenhalt im Papierkorb. Je mehr er sich anstrengte, die Nacht zurückzuholen, desto mehr begann er zu zweifeln, ob Nori und er überhaupt geredet hatten. Ob die beiden tatsächlich geschäkert hatten, und ihre Hände sich berührt. Noris Hand ließ ihn nicht mehr los und verfolgte ihn bis in seine Träume. Nie hatte er solche Mädchenhände angefasst. Nicht zart wie die der meisten Mädchen. Eher rau. Wie Bauarbeiterhände. So empfand Nori sie. Deshalb schleppte sie in ihrem Jutebeutel auch immer alle möglichen Handcremes mit. Achim schwor sich, diese Hand nie mehr loszulassen. Sie zu beschützen.

      Seit der Nacht verfolgte ihn dieser Traum: Achim und Nori flitzten die Wendeltreppe hoch zur Ihmepassage, Hand in Hand vorbei an den dunklen Ateliers, die Türme des Ihme-Zentrums waren vollkommen schwarz, kein Stern war am Himmel zu sehen. Nur die Laternen, die Achim an den verblichenen Globus in Mamas Arbeitszimmer erinnerten, leuchteten matt. So matt, dass er beim Laufen kaum seine Füße sehen konnte. Achim hörte Noris Schritte hinter sich, sie hallten durch die einsame Häuserschlucht, ihre Hand klammerte sich fester an seine, sie nahmen Kurve um Kurve, Kübel um Kübel, Slalom durch die verwinkelte Ladenzeile, wieder eine Treppe runter und über den gottverlassenen Ihmeplatz. Als der Rumpf des Ihme-Zentrums sie verschluckte, glitt das junge Händepaar auseinander. Achims Hände schwitzten. Trieften. Achim