Harriet. Kristina Schwartz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kristina Schwartz
Издательство: Bookwire
Серия: Joe & Johanna Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742746405
Скачать книгу
zur Tür. "Ah, Sie sind's schon wieder", ließ Sandra ihre nicht gerade freundliche Begrüßung vom Stapel, während sie die Tür mit einem Ruck aufriss.

      "Ja, tut mir leid. Ich schon ..." Der Polier, der sie irgendwie an Sawyer aus der Serie Lost erinnerte, hielt inne. Er betrachtete die Schuhe mit den Wahnsinnsabsätzen, den seidenen Mantel und ihr wirres Haar. "Ich störe grad, nehm' ich an ..."

      "Sie nehmen richtig an."

      "Sagen Sie bitte der Frau Doktor Binder, dass sie mich unbedingt kontaktieren soll."

      Joe horchte auf. Diese Stimme, diese angenehme Stimme. Sie wand ihre Gelenke in den Handschellen und wusste, dass das morgen wieder böse Abschürfungen geben würde. Hätte sie nur eine Hand freibekommen, ...

      "Ich hab's ihr schon gesagt."

      "Bitte richten Sie es ihr nochmals aus." Sein Bizeps zeichnete sich durch sein T-Shirt ab und seine Bartstoppeln verliehen ihm eher die Aura eines Abenteurers als die eines Bauarbeiters. "Wir können nicht weitermachen ohne ihre Anweisungen. Ich bin aber erst übermorgen ab sieben wieder auf der Baustelle. Vielleicht kann sie vorbeischauen."

      "Übermorgen. Ab sieben. Ich werd' mein Möglichstes tun", lächelte Sandra, ehe sie die Tür schloss.

      Wie akustisches Aphrodisiakum war die angenehme Stimme des Poliers über Joes Körper gefegt und hatte nicht nur ihre Härchen im Nacken und auf den Armen zum Stehen gebracht.

      Sandra warf ihren Mantel auf den Boden, kniete sich auf die Matratze und langte zwischen Joes Beine. "Du leckst wie ein Sieb, Frau Doktor." Sie kontrollierte die Handschellen, die eng Joes Gelenke umschlossen.

      Joe verdrehte die Augen in peinlicher Verlegenheit.

      "Freut mich, dass es dich so antörnt, wenn ich zwischen Tür und Angel mit deinem Polier rede."

      "Tut mir leid. Ich wollte nicht, aber ..." Joes Stimme war kaum noch zu hören.

      *

      Ihre Vision war verschwommen, unklar. Unsicher tastete sie sich durch ein Labyrinth von Gängen, möglicherweise war es auch nur ein einziger. In ihrem Zustand, irgendwo zwischen vom Alkohol betäubt und von Amphetaminen aufgestachelt, vermeinte sie in weiter Ferne einen hellen Punkt zu sehen. Tollpatschig und doch zielstrebig wankte sie ihm entgegen. Als sie näherkam, sah sie, dass es sich um einen in krankenhausweiß ausgemalten, verschwenderisch beleuchteten Raum handelte. Doch es gab keine Tür zu dem Raum, lediglich einen Durchgang, einen wundervoll mit alten rotbraunen Ziegeln gemauerten Rundbogen. Unsicher, als wäre sie gerade im Begriff etwas Verbotenes zu tun, betrat sie den Raum. Plötzlich erstarrten ihre Glieder mitten in der Bewegung. Wo kam die Frau mit einem Mal her, die sich gleich einer Statue von Rhodin mitten im Raum erhob? War sie einen Augenblick zuvor auch schon da gewesen? Sie rieb ihre Augen, sah erneut hin. Kein Zweifel. Es war eine Frau, die durch ihre unnatürliche Haltung etwas Beängstigendes ausstrahlte.

      "Hallo", sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. "Hallo? Geht es Ihnen gut?"

      Doch es kam keine Antwort.

      Außer hochhackigen Schuhen trug die Frau nur ein einziges Kleidungsstück. War das tatsächlich eine ... konnte das wirklich eine ... Sie tat noch einen vorsichtigen Schritt und mit einem Mal erkannte sie, was ihre Augen schon die gesamte Zeit über wahrnahmen - eine Zwangsjacke. Aus grobem Leinen oder Segeltuch gearbeitet, an den Enden der Ärmel noch mit Leder verstärkt. Massive Schnallen, die mit dreifach vernähten Lederriemen geschlossen wurden. Einer dieser Riemen lief zwischen den Beinen hindurch um die Trägerin am Abstreifen der Jacke zu hindern. Als wäre das nicht schon genug, waren die Oberarme noch mit einem Strick an den Körper geschnürt und die Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Lang und strähnig hing das schwarze Haar vom Kopf. Jetzt erst fiel ihr auf, dass im Nacken eine schwarze Krawatte verknotet war, die offensichtlich als Knebel diente.

      Sie schreckte zurück, als sie den Strick bemerkte, der straff um den Hals geschlungen war und zu einem monströsen Haken an der Decke führte.

      Verdammt, was sollte das alles? Wo war sie? Joe was tust du hier? Wie bist du hier überhaupt hergekommen?

      Die Frau im Raum konnte schwerlich auf ihren Füßen stehen, da ihre Zehenspitzen kaum den Boden berührten. Vielmehr hing sie von der Decke, was die seltsame, abschreckende Körperhaltung erklärte.

      "Hallo?", fragte Joe leise und stupste mit dem Zeigefinger gegen ihren Rücken.

      Nichts rührte sich. Kein Zucken, kein Stöhnen, kein Anzeichen von Leben.

      Joe, tu doch was, du musst sie da runterschneiden!

      Und wie?

      Sie suchte den Raum ab, nach einem Messer, einer Säge, einer Axt. Doch außer ihr und der Frau schien nichts und niemand zu existieren. Sie rannte auf und ab, starrte in den düsteren Gang, der sie hergeführt hatte, konnte aber auch dort nichts ausmachen, was sie möglicherweise verwenden hätte können. Dann warf sie einen verächtlichen Blick in das Gesicht dieser Frau, als wolle sie ihr zu verstehen geben, was sie ihr mit dieser Erhängten-in-der-Zwangsjacke-Nummer für Schwierigkeiten bereitete.

      "Oh, mein Gott", stieß sie hervor, ehe die Beine unter ihr nachgaben und sie zusammensackte, den Eindruck dieses schmerzverzerrten Frauengesichts auf ewig in ihr Gedächtnis gebrannt.

      Wie von der sprichwörtlichen Tarantel gestochen schreckte Joe, an der das schweißnasse Leintuch wie mit Sekundenkleber befestigt haftete, aus ihrem Traum hoch. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in das Dunkel des Schlafzimmers. Ihr Atem ging keuchend und unregelmäßig. Ein zarter Mädchenduft, der so gar nicht in die Situation passen wollte, kroch ihr in die Nase.

      "Was is', mein Schatz" rekelte sich Sandra neben ihr. In ihre Decke bis über die Ohren eingerollt sah sie aus wie eine ägyptische Mumie.

      "Es ist ... nichts", sagte Joe nach einer Weile.

      "Dann is' gut", drehte sich Sandra auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfpolster.

      Gar nichts ist gut, dachte Joe, und nahm ein paar Tropfen Bachblüten von ihrem Nachttisch.

      *

      Als der Smartphone-Wecker Joe brutal aus dem seichten Schlaf riss, waren sie sofort wieder zur Stelle, ihre Erinnerungen an den furchtbaren Albtraum, der sie während der Nachtstunden heimgesucht und ihre so harmlosen Gedanken und kaum vorhandene Fantasie bis zum Äußersten strapaziert hatte. Ihre schlimmsten Ängste hatten, unglaublich real, vor ihrem geistigen Auge Gestalt angenommen, hatten ihr gezeigt, dass das Spiel mit Seilen kein ungefährliches war und dass Vertrauen eine unabdingbare Voraussetzung für das war, was Sandra und sie teilten und sie selbst, nach anfänglicher Ablehnung, mittlerweile doch lieb gewonnen hatte: das Spiel, sich der Liebsten auszuliefern, sich ihr zu unterwerfen, sich komplett fallen zu lassen und die Verantwortung für den eigenen Körper abzugeben.

      Das sonst so angenehme Prickeln, das sie bei diesen Gedanken üblicherweise verspürte, wurde diesmal allerdings von Gänsehaut und einem undefinierbaren Knoten in ihrem Magen abgelöst. Joe schlich sich wie jeden Morgen, an dem Vormittagsordination war, aus dem Schlafzimmer und ließ ihrer Geliebten noch ein paar Stunden auf Wolke sieben. Sie machte sich mit ihrer Espressomaschine - ohne N vor dem Espresso -, die noch ohne Strom und Kapseln, nur mit Wasser, gemahlenem Kaffee und einer heißen Herdplatte funktionierte, Kaffee. Widerwillig schlang sie eine Banane hinunter, von der sie hoffte, dass sie auch unten bleiben würde. Ihrer Handtasche entnahm sie, nachdem sie jedes noch so kleinste Seitenfach durchstöbert hatte, eine zerknitterte Schachtel mit den beruhigenden Filmtabletten, die Baldrian und Hopfenextrakt enthielten. Als sie eine davon mit dem Kaffee runterspülte, dämmerte es ihr erst, dass es nicht besonders gescheit war, eine beruhigende Tablette mit einem aufputschenden Getränk zu nehmen. Spontan drückte sie noch eine zweite aus der Verpackung und spülte sie gleich hinterher. Das Medikament beeinträchtigte zwar die Reaktionsfähigkeit, doch in ihrem zarten Nervenkostüm konnte sie darauf nun wirklich nicht Rücksicht nehmen.

      Wie ferngesteuert setzte sie sich in ihren Smart. Sie konnte sich nicht erinnern, im Bad gewesen zu sein und sich angezogen zu haben. An sich hinabblickend stellte sie beruhigt fest, dass sie mangels Kreativität wohl