Joe war so verdutzt, dass sie kein Wort herausbrachte.
"Guten Tag, Hudl", stellte er sich vor.
"Guten Tag", kam es von der Ärztin wie in Trance. Langsam rollte sie mit dem Sessel zurück und ließ ihre Beine, wie sie es als kleines Mädchen gelernt hatte, sittsam unter dem Tisch verschwinden.
"Hab' ich Sie schon aufgerufen?" Es war eine Mischung aus Vorwurf und Frage.
"Ihre Assistentin hat mich hereingeschickt. Sie sagte, Sie wären schon so weit." Helmut Hudl verzog sein Gesicht, als wollte er fragen, ob die Antwort als Rechtfertigung genüge.
"Soso, meine Assistentin."
"Doch-doch. Übrigens eine ausgesprochen hübsche Person ihre Vorzimmerdame, mit ihren roten Locken und den hochhackigen Stiefeln. Wie alt ist sie eigentlich? Mitte zwanzig?"
Joe war verwirrt. "Frau Schober, meine rechte Hand, ist korpulent, Ende vierzig und trägt wegen ihrer Spreiz-Senk-Füße stets Birkenstock Hausschuhe während der Arbeitszeit."
"Oh, dann hat man mich offensichtlich ..."
"Ja, offensichtlich hat man das, Herr Hudl." Joe straffte ihren Rücken und war nun im Sitzen beinahe so groß wie ihr Gegenüber. "Was kann ich für Sie tun?" Dabei strahlte ihm ihr professionelles Lächeln entgegen.
Sein gerade noch so sympathisches Gesicht verzerrte sich, seine Wangen leuchteten als hätte er Rouge aufgelegt. Er rutschte auf dem Besuchersessel vor und zurück, schlug ein Bein über das andere. "Wie soll ich sagen ..." Fahrig strich er über seine Jeans, als entferne er eine Fussel. "Die Sache ist etwas delikat."
Fragend hob Joe die Augenbrauen. "Da können Sie ja von Glück reden, dass Sie zu mir gekommen sind. Ich bin nämlich Spezialistin für delikate Angelegenheiten", schmunzelte sie. "Sie können mir alles anvertrauen."
Er holte tief Luft. "Ich habe vor einer Woche ein nettes Mädchen kennengelernt ... neunzehn, acht Jahre jünger als ich."
Joe hatte ihre Hände vor der Brust gefaltet und versuchte ihren Patienten durch zustimmendes Nicken zum Weiterreden zu animieren.
"Wir hatten etwas getrunken. Nicht viel. Zwei, drei Aperol-Spritzer vielleicht, ein paar Glas Weißwein, zum Abschluss noch ein paar Wodka - doppelte."
"Wollen Sie mir ein Drehbuch verkaufen?", unterbrach ihn Joe unwirsch.
"Bitte?"
"Kommen Sie auf den Punkt."
"Dann fuhren wir zu mir - mit den Öffis. Wir küssten uns. Dann, ich weiß nicht mehr genau, hatte sie mir plötzlich meine Hose runtergezogen, drängte mich zur Couch und verpasste mir ..." Hudls Gesicht leuchtete mittlerweile dunkelrot. "... einen Blowjob. Ihre Lippen waren so zärtlich, ihre Zunge so ..."
Und nun erwarten Sie das gleiche von mir, lag Joe schon auf der Zunge. Doch sie entgegnete nur: "Herzlichen Glückwunsch. Doch warum sind Sie eigentlich hier?"
"Nun ... ich kenne sie noch nicht lange, weiß nichts über sie ..."
"Herr Hudl, bitte. Draußen warten noch andere Patienten."
Er riss die Augen auf. "Könnte ich mir dabei Aids eingefangen haben?"
Dämliche Frage, dachte Joe. Aids durch Blowjob? Was sollte der Schwachsinn! Sie legte die Stirn in Falten, was zwar nicht immer, doch in diesem Fall ein sicheres Indiz dafür war, dass sie ernsthaft nachdachte. Vielleicht war die Frage gar nicht so dämlich. "Hat sie Sie gebissen?"
"Natürlich nicht." Er grinste. "Das hätte ich gemerkt."
"In ihrem Zustand?"
"Bitte?"
"Hatte die Frau Verletzungen im Mund?"
"Wie?"
"Oder Zahnfleischbluten? Eine offene Wunde?, ... etwas in der Art."
"Ich denke nicht. Weiß nicht."
"Schauen Sie, Herr Hudl. Ich würd' mir deswegen jetzt keine grauen Haare wachsen lassen. Wir können natürlich gern einen Test machen, aber ich stufe die Wahrscheinlichkeit so gering ein, dass ich es vorerst nicht für notwendig halte."
Helmut Hudl schien erleichtert.
"Aber ..."
Er war gerade im Aufstehen begriffen und ließ sich nochmals auf die Sitzfläche zurückfallen.
"... ich würde Sie gerne morgen Früh Punkt sieben Uhr zur Blutabnahme sehen."
Unsicherheit war mit einem Mal in seinen Augen zu lesen. "Aber Sie sagten doch gerade ..."
"Ihre Leberwerte, Herr Hudl." Dabei grinste die Ärztin schelmisch.
"In Ordnung", sagte er resigniert und gab Joe zum Abschied die Hand.
"Schicken Sie mir bitte umgehend meine Assistentin herein! - Danke!"
Als es gleich darauf klopfte, war die Anklopfende nicht gewillt auf eine Aufforderung einzutreten zu warten. Einen Augenblick später stand Christine Schober, ihre Sprechstundenhilfe, bereits raumfüllend im Zimmer. "Bitte?", sagte sie knapp.
"Ach sie sind's?"
"`tschuldigung! Wen haben Sie erwartet?"
"Ich dachte nur ..."
"Haben sie draußen eine schlanke große Frau, Mitte zwanzig, mit hochhackigen Stiefeln gesehen."
"Soviel ich mich erinnern kann, haben sie mich für die Anmeldung und Betreuung ihrer Kunden - Verzeihung! - Patienten eingestellt. Ich kann mir wirklich nicht die Klamotten auch noch merken. - Aber, um die Frage zu beantworten, an eine schlanke, junge Frau kann ich mich nicht erinnern."
Joe kratzte sich am Kopf.
"Sie wissen doch. Heut' ist Montag."
Joe hatte das Gefühl, in einem Paralleluniversum festzustecken. "Und?"
"Montags sind immer die Fettleibigen, die Couch-Potatoes und die Alkohol-Hedonisten. Und die Lustigen, die glauben, bei dm und Billa gibt's die Sonnencreme zum Spaß zu kaufen."
"Verstehe. Und Sie glauben ein Mädchen in den Zwanzigern fällt in keine der genannten Kategorien?"
Frau Schober stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor ihrer ausladenden Brust. "Schwer. Meiner Meinung nach zumindest."
"Danke. Das wär' für den Moment alles. - Schicken Sie mir bitte den nächsten Patienten."
"Sofort." Und noch ehe das Wort verhallte, war die Sprechstundenhilfe wieder verschwunden, ebenso flink, wie sie aufgetaucht war.
Joe warf einen raschen Blick auf ihren Bildschirm. Dr. Bertram war der Nächste. Eine unangenehme Hitze stieg in ihr hoch. Rasch schloss sie auch noch den obersten Knopf ihrer Bluse.
Gleich darauf stand freudestrahlend Dr. Bertram in ihrer Ordination und schleuderte ihr ein gutgelauntes "Guten Tag, Frau Doktor" entgegen.
*
Ihrer Frauenrunde hatte Joe zugesagt, dass sie zuverlässig um halb acht im Santo Spirito sein werde. Da half es auch nichts, dass sie sich nun müde und abgezehrt fühlte und am liebsten gleich ins nächste Bett gefallen wäre. Doch versprochen war versprochen - echtes Frauenehrenwort. Ein Nichterscheinen war nur bei schwerer Krankheit oder Tod tolerierbar.
Als sie zehn Minuten vor der Zeit in das Lokal in der Kumpfgasse kam, war Andi schon da. Klassische Musik plätscherte wie gewohnt aus der Stereo-Anlage.
Andrea, die bereits bei ihrem ersten Spritzer saß, war so mit der Speisekarte beschäftigt, dass sie Joe gar nicht bemerkte. Das lange dunkelbraune Haar, das ihr einseitig über die Schulter fiel, gab ihr, missverständlicherweise,