Wann die Zeiten wehen. Erich Rudolf Biedermann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erich Rudolf Biedermann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844244328
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für die schlechte Laune war seine Einberufung zum estnischen Militärdienst, den er mit Beginn des anstehenden Jahres anzutreten hatte. Den schulischen Zwängen würde also bald der militärische Drill folgen.

      Von seinen bereits früher eingezogenen Klassenkameraden wusste er, was ihn erwartete. Im Gegensatz zu ihm, der sich für den einfachen Wehrdienst entschieden hatte, besuchten sie jedoch durchwegs die Offiziers-Aspirantenschule. Nach Abschluss ihrer Ausbildung waren sie Reserveoffiziere, während er den wenig prestigeträchtigen Status eines einfachen Soldaten haben würde. Doch dafür war seine Ausbildung kürzer und an einer militärischen Karriere war er ohnehin nicht interessiert. Abgesehen davon fragte er sich generell nach dem Sinn des estnischen Militärdienstes. Im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung würde das kleine Estland ohnehin in kürzester Zeit vom Gegner überrannt werden.

      Wie er in den nächsten Monaten dann feststellen konnte, war der Wehrdienst doch nicht so belastend, wie ursprünglich befürchtet. Drill und Schleifereien hielten sich in Grenzen.

      Im Hinblick auf sein angestrebtes Medizinstudium stellte er am Ende der Grundausbildung einen Antrag auf Übernahme in den militärischen Sanitätsdienst. Ein solcher Wechsel erwies sich jedoch als nicht einfach. Nur die jeweils Besten einer Einheit konnten nämlich über ihren künftigen Einsatzbereich frei entscheiden. Für die Beurteilung der Soldaten war das Ergebnis eines abschließenden Schießwettbewerbs von maßgeblicher Bedeutung. Niki war ein guter Schütze und hatte bereits zwei interne Wettbewerbe gewonnen. Seine Chancen standen also nicht schlecht. Doch als es jetzt darauf ankam, versagte er in seiner Paradedisziplin Stehendschießen und fiel in der Wertung zurück. Die Versetzung in den Sanitätsdienst konnte er damit vergessen.

      Über die Verwendung der Rekruten wurde kurze Zeit später in Tallinn entschieden. Auf dem Appellplatz eines Kasernengeländes wurden den im Karree angetretenen Soldaten ihre künftige Waffengattung und ihr Einsatzort mitgeteilt. Auf Niki wartete eine besondere Überraschung: Ein junger Leutnant informierte ihn darüber, dass er dem Wachbataillon des Präsidenten der Republik zugeteilt worden wäre.

      „Ich würde gerne im Sanitätsdienst eingesetzt werden“, wagte Niki zu bemerken.

      Der Offizier blickte ungehalten. „Sonderwünsche gibt es nicht“, erklärte er streng, „Sie sind groß gewachsen und Abiturient. Für den Wachdienst des Präsidenten werden intelligente junge Männer benötigt. Sie sind dort an der richtigen Stelle.“

      Am folgenden Tage meldete sich Niki auf dem Domberg zum Dienstantritt. Im dunklen Vorraum eines älteren Gebäudes der Stadt Tallinn saß ein mürrischer Unteroffizier an seinem Schreibtisch, der Niki beim Eintreten gar nicht zu Wort kommen ließ. Ohne ein Wort zu verlieren, deutete er auf einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl und vertiefte sich weiter in die vor ihm liegende Akte. Er war wohl die Ordonnanz vom Dienst.

      Das ungemütliche Schweigen dauerte fast eine Stunde, bis endlich ein Feldwebel den Raum betrat. „Kommen Sie“, winkte er Niki und geleitete ihn in einen großen Raum, durch dessen Fenster gleißendes Sonnenlicht fiel. An den Wänden des Zimmers hingen Landkarten und an der Frontseite stand eine Tafel, auf der Papiere und Zettel befestigt waren. Zur Mitte hin saß ein beleibter Hauptmann, neben dem ein junger Leutnant Platz genommen hatte. Davon etwas abgesetzt hatte sich der Feldwebel niedergelassen, der ihn hereingeführt hatte.

      „Wie ist Ihr Name?“, begann der Hauptmann kurz angebunden.

      „Nikolaus Bisdorff.“

      „Ach ja, Sie sind das“, meinte der Offizier. „Wie ich höre, haben Sie bereits einen Antrag auf Versetzung gestellt.“

      „Ja, gewiss“, bestätigte Niki überrascht. Zumindest war sein Wunsch weitergeleitet worden.

      „Was haben Sie gegen den Dienst im Wachbataillon? Sie haben dort ja noch gar nicht angefangen!“, forschte der Hauptmann brummig und beugte sich auf seinem Stuhl vor.

      „Ich möchte Medizin studieren und könnte ... “

      „Als estnischer Staatsbürger leisten Sie hier Ihren Militärdienst ab“, unterbrach ihn der Offizier grob, „wo kämen wir hin, wenn jeder nach seinem Gusto einsetzt werden möchte. Im Moment brauchen wir Leute für das Wachbataillon und keine Sanitäter!“

      Niki erschrak über die Ungehaltenheit des Offiziers.

      „Möchten Sie sich vielleicht dem Dienst im Wachbataillon entziehen?“, mischte sich der Leutnant ins Gespräch. „Normalerweise ist es für jeden Soldaten eine Auszeichnung, in dieser Eliteeinheit Dienst zu tun. Dass Sie sich dieser Aufgabe nicht mit Freude stellen, erscheint seltsam!“

      Das Gespräch wurde mit jedem Satz unangenehmer.

      „Ich bin mir dieser Ehre durchaus bewusst, Herr Leutnant“, versicherte Niki.

      „Nun, dann ist ja alles in Ordnung“, grummelte der Hauptmann, schien aber von Nikis Worten wenig überzeugt.

      „Wir werden dafür sorgen, dass Herrn Bisdorff der Dienst im Wachbataillon nicht langweilig wird“, meinte der Leutnant süffisant lächelnd, beugte sich zu dem Feldwebel und flüsterte ihm einige Sätze ins Ohr.

      Kapitel 15

      Das Wachbataillon des Präsidenten der Republik rekrutierte sich vorwiegend aus jungen Esten, die in aller Regel bäuerlichen Familien entstammten. Aber es gab auch Ausnahmen. Neben Niki zählten ein ebenfalls deutschstämmiger Abiturient, Alfons Geisheimer, sowie ein eingebürgerter Russe, Boris Storoschenko, zu dessen Mitgliedern. Storoschenko hatte wie Niki die deutsche Schule in Pernau besucht und war danach bei einem jüdischen Uhrmacher in die Lehre gegangen.

      Die beiden deutschen Abiturienten und auch Storoschenko wurden allgemein als die Elite der Wachmannschaft angesehen. Es war aber nicht nur die höhere Schulbildung, die sie aus dem Kreis ihrer Kameraden heraushob. Geisheimer besaß eine künstlerische Ader und das Talent, Wohnungen kunstvoll herzurichten und auszustatten. Die von ihm verschönerten Räume erstrahlten danach in einem bislang unbekannten Glanz. Storoschenko hatte das handwerkliche Können Uhren wieder instand zu setzen. Wurden keine Ersatzteile benötigt, erfolgten die Arbeiten kostenlos. Das Können der beiden sprach sich herum und es dauerte nicht lange, bis nicht nur die Leitung des Wachbataillons von ihrem Können profitieren wollte.

      Nikis Qualitäten lagen dagegen mehr auf verbalem Gebiet. Sein Hang, zu allem etwas sagen zu wollen, trübte aber schon bald sein Verhältnis zu den Vorgesetzten. Dagegen war er bei seinen Kameraden beliebt und avancierte bald zu deren Wortführer.

      Der Dienst im Wachbataillon unterschied sich wohltuend vom Kommissleben der estnischen Armee. Die Verpflegung der Wachsoldaten war qualitativ besser und neben den täglichen Essensrationen gab es Bohnenkaffee und Weizenbrot.

      Wegen ihrer Repräsentationspflichten wurde auf das Erscheinungsbild der Wachsoldaten besonderen Wert gelegt. So verzichtete man darauf, ihnen die Köpfe kahl zu scheren und ihre aus gutem Tuch gefertigten Uniformen hoben sich vorteilhaft vom Rest der estnischen Armee ab, die das russische Vorbild nicht verleugnen konnte. Während die Beine der Wachsoldaten in weichen Stiefeln steckten, war das Schuhwerk der gemeinen Soldaten so grob und steif, dass deren Träger oft hineinpinkelten, um es etwas geschmeidiger zu machen.

      Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Schlimm war nur, dass dieser Schatten im Wachbataillon vor allem auf Niki zu fallen schien. Von Anfang an hatten ihn die Ausbilder besonders ins Auge gefasst. Wurde ihm der Wunsch, in den Sanitätsdienst versetzt zu werden, hier übel genommen?

      Wegen seiner Repräsentationsaufgaben unterstand das Wachbataillon einem strengen Reglement. Regelmäßiger Exerzierdienst und penible Befolgung formaler Vorschriften gehörten zum täglichen Dienstablauf. Niki empfand diesen Drill, sowie das ständige Tadeln und Korrigieren der Vorgesetzten, als Schikane und persönliche Demütigung. Während seine Kameraden den Dienstablauf als unvermeidliches Übel hinnahmen, lehnte er sich dagegen auf. Vor allem ein massiger Feldwebel mit Halbglatze und fleischiger Nase, aus der sein fehlender Haarbesatz zu sprießen schien, hatte es auf ihn abgesehen. Seine kleinen, wasserblauen Augen,