In Berlin wird noch geschossen e-book. Alana Maria Molnár. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alana Maria Molnár
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236750
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die Tante Anna. Und das ist meine Tochter Júlia.«

      László schnappt nach Luft, Mutter hat er bis eben noch gar nicht wahrgenommen.

      Die Dunkelhaarige merkt von seiner Reaktion nichts. Sie tippt sich auf die Stirn. »Júlia. Ach ja, von dir hat László oft gesprochen. Jetzt weiß ich es! Du bist das Mädchen, dem jemand ein Jahr lang über dreihundert Briefe geschrieben hat, fast jeden Tag einen. Und dann war der plötzlich auf und davon. Du Ärmste!«

      Bevor ich überhaupt etwas tun kann, umarmt mich die Dunkelhaarige stürmisch und redet mit einem Tempo auf mich ein, daß mir die Luft wegbleibt. Letzteres allerdings nicht nur wegen ihres Redeschwalls. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie László sich zentimeterweise der Tür nähert. Der Schuft, wie meine Mutter ihn neuerdings nennt, will sich aus dem Staub machen.

      Mutter ist schneller, mit zwei Schritten ist sie bei ihm, hakt sich ein und schiebt ihn sanft aber mit Nachdruck in unsere Richtung.

      Was passiert hier überhaupt? Die Situation kommt mir vor wie eine Szene aus einer schlechten Boulevardkomödie. Warum hat sich Mutter als seine Tante ausgegeben? Fragen kann ich sie jetzt wohl schlecht danach.

      »Wie heißen denn Sie, meine Liebe?« fragt Mutter das dunkelhaarige Mädchen.

      »Oh, Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Margit. Margit Virág.«

      »Gibt es hier in de Nähe ein Café? Was haltet ihr von einer Tasse Kaffee und ein bißchen Gebäck?«

      László befindet sich immer noch im Zustand der Sprachlosigkeit. Margit will mit. Die Cafeteria der Hochschule würde sie nicht zu empfehlen, sagt sie, aber ganz in der Nähe kennt sie ein nettes Café mit Konditorei.

      Mutter hängt immer noch am Arm von László. Margit hakt sich bei mir ein und führt die kleine Gruppe an. Sie redet ohne Punkt und Komma. Ob sie immer so ist? Ich ertappe mich dabei, Mitleid mit László zu bekommen.

      »Die Sache mit dem gemeinen Kerl mußt du mir genau erzählen. Sowas habe ich noch nie gehört. Ich hoffe nur, daß er seine Strafe kriegt.« Margit scheint ehrlich empört zu sein.

      »Strafe? Was könntest du dir denn vorstellen?« Die Situation beginnt mich zu amüsieren. Zwischen die gerade so fröhlichen Gedanken schieben sich Bilder, die meine Hand zeigen, wie sie aus vollgeschriebenen Briefseiten Klöße formen und diese in die Flammen werfen. Das Papier wird im Feuer lebendig, dehnt und streckt sich, so daß ich einige Wörter wieder klar erkennen kann.

      Margit merkt nichts davon, sie zieht mich energisch weiter. Auf dem Weg zur Konditorei zählt sie schon erste Möglichkeiten auf, wie der briefeschreibende Missetäter bestraft werden könnte. Ich freue mich darauf, all die von Margit vorgeschlagenen Dinge beim Espresso und Gebäck näher zu erörtern. Und László muß zuhören. Eine unerwartete Wendung, zugegeben, aber die gefällt mir besser als die womöglich dramatische Fortsetzung der Szene vorhin im Besucherraum, bevor Margit aufgetaucht ist.

      Der Abschied von ihr und László fällt mir nicht schwer. Das redselige Mädchen will noch meine Adresse, sie sagt, sie möchte mir gerne schreiben, Frauen müssen schließlich zusammenhalten.

      Mutter rettet mich, indem sie auf ihre Armbanduhr schaut und vom Stuhl springt. Wir dürften unseren Zug nicht verpassen, sagt sie, umarmt Margit hastig, klopft László tantenmäßig auf die Schultern und zieht mich hinter sich her.

      Schnipp schnapp, Haare ab

      Der Zug steht schon auf dem Gleis, als wir nach der langen Fahrt durch die ganze Stadt am Ostbahnhof ankommen. Die Karten müssen wir im Zug nachlösen. Wir haben Glück und finden einen leeren Abteil, den uns niemand streitig macht, bis wir umsteigen müssen. Mutter fließen die Tränen beim Lachen, sie kann sich kaum beruhigen. Alle Szenen gehen wir noch einmal genüßlich durch, mit wechselnder Rollenverteilung. In mein Lachen mischt sich zwar eine Prise Trauer, aber das Komische der Situation löst bei jeder Wiederholung hemmungslose Heiterkeit aus.

      Margit haben wir nicht aufgeklärt, wer wir sind, und László hat sich aus nachvollziehbarem Grund gehütet, es zu tun. Mutter und ich entwickelten eine unbändige Freude dabei, Margit immer neue Strafen für den Schuft erfinden zu lassen. Als ich fragte, seit wann sie denn über die unglückliche Geschichte mit den Briefen weiß, antwortete sie: seit kurzem. Das stimmte mich ein ganz kleines bißchen versöhnlich.

      »Apropos, Briefe! Du hast vergessen, Deine Briefe zurückzuverlangen.« Mutter sieht mich fragend an.

      »Mir sind die egal, Mama. Außerdem könnte ich ihm seine Briefe auch nicht zurückgeben. Die ruhen sanft unter den Himbeersträuchern im Garten.«

      Mutter wird plötzlich ernst. »Hast du denn die Antwort bekommen, die du haben wolltest?«

      »Ja. Mehrere. Und die, die ich gar nicht haben wollte, waren doch lustig. Oder?« Endlich kann ich heulen.

      Mutter kuschelt sich in ihren Sitz und findet die Welt wieder in Ordnung. Gut, daß sie nicht versucht, mich zu trösten. Das wird die Zeit ohne mein Zutun erledigen, sagt sie, bevor sie die Augen schließt, um ein kleines Nickerchen zu halten. Schließlich war es ein anstrengender Tag.

      »Wie siehst du aus, Kind?« In Großmutters Blick sehe ich blankes Entsetzen.

      »Nichts Schlimmes. Ich habe nur meine Zöpfe abgeschnitten.«

      »Entstellt hast du dich! So eine Schande!«

      Großmutter tut sich schwer, sich mit meiner Verzweiflungstat, wie sie es nennt, abzufinden.

      Mein Kopf fällt plötzlich nach vorn, das Gewicht des langen dicken Haars zieht ihn nicht mehr in den Nacken. Genau wie Mutter es vorausgesagt hat. Sie behält ihre Gedanken für sich, als sie das fransig abgesäbelte Ende der Haare sieht, wo heute Morgen noch die Zöpfe waren.

      »Warte auf mich, ich bin gleich zurück.« Wie immer, wenn sie Geld braucht und keines hat, geht sie zu Großtante Klára.

      Eine Stunde später sitzen wir im Bus nach Eger und zwei Stunden später trage ich stolz eine hochmoderne Frisur zur Schau, geschnitten von einem bekannten Friseur in der Hauptstraße.

      Anschließend schleppt mich Mutter zu Herrn Kéry. Er arbeitet zwar nur noch wenig, weiß sie zu berichten, aber eine Bitte von ihr wird er schon nicht abschlagen. Es ist schließlich ein historischer Augenblick, wenn ein Mädchen von sechzehn Jahren die langen Haare abschneiden läßt. Sowas kann eine Menge verändern, das weiß sie aus eigener Erfahrung.

      Für mich bedeutet das Abschneiden der Zöpfe den endgültigen Abschied von der Kindheit.

      Hitzschlag und mehr

      Die Sonne brennt erbarmungslos auf die Weinberge von Tokaj. Der vulkanische Boden speichert die Hitze und im Sommer gibt sie sie auch tagsüber zurück. Zwischen den Rebstöcken weht kein Lüftchen. Die Klasse verbringt das Das Praktikum in den Ferien zum größten Teil mit der Pflege des berühmten Weins. Wegen der steilen Hanglage müssen alle Arbeiten von Hand erledigt werden. Es ist Zeit, die hochgeschossenen Triebe anzubinden und die Enden zu kappen, damit die Reben ihre Kraft in das Wachsen künftiger Trauben investieren und nicht an unnütze Triebe verschwenden. Von saftigen großen Blättern beschattet lassen sich die noch grünen Perlengebilde der Trauben gut ergehen, sie schlürfen Nährstoffe aus dem Boden, dem Sonnenlicht und der Luft. Sie sind schon ansehnlich in der Größe, und wenn das Wetter mitmacht, versprechen sie eine reiche Ernte.

      Herr Dávid, unser Klassenlehrer, rennt von Reihe zu Reihe und beobachtet, ob wir die Rebstöcke mit der nötigen Sorgfalt behandeln. Wer das nicht getan hat, stellt sich zur Erntezeit heraus, denn jeder Schüler hat eigene Reihen zugewiesen bekommen, die er pflegt. Uns allen läuft der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter, die Träger schaffen es kaum, soviel Wasser heranzuschleppen, wie es durch dreißig durstige Kehlen rinnt.

      .

      Am Morgen habe ich das Kopftuch vergessen und merke, daß meine