Wilhelmina. Susanne B. Kock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne B. Kock
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844233919
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jedes Mal ein Stein vom Herzen. Was sollte sie denn auch in Süddeutschland? Nach Frankfurt, unter Menschen mit diesem scheußlichen Dialekt. Oder noch schlimmer zu den Narren nach Mainz. Allein die Vorstellung, warme Sommerabende an verschlammten Baggerseen zubringen zu müssen statt mit Surfen und Schwimmen an der Ostsee! Nein, dann doch lieber etwas ganz anderes hier im Norden machen. Sie hatte ja Zeit, konnte einfach als Postbotin weiterjobben, auf die richtige Anzeige, die richtige Stellung warten. Marthe ließ sich Zeit. Las bergeweise Bücher teilweise zweifelhafter Observanz, ohne auch nur den leisesten Gedanken an Sekundärliteratur oder Quellenkritik zu verschwenden, strich die Wohnung, bepflanzte die Blumenkästen auf dem geräumigen Balkon, spielte Hausfrau. Kaufte ein, kochte, wusch und bügelte für Thomas, der jeden Morgen frischrasiert, gekämmt und wohlduftend in seinen Anzug schlüpfte, sich in den Golf setzte und in der Devisenabteilung seiner Bank mit Geldan- und Verkäufen viel Geld verdiente. Nach dem Stress des letzten Unijahres, in dem sie manchmal schweißnasse Alpträume von vergessenen Fußnoten geträumt hatte, genoss Marthe die Rückkehr in ein relativ zwangfreies Leben. Geldverdienen, Reisen, sich mit Freunden in der Stammkneipe treffen, keine lästigen Verpflichtungen. Bei Bedarf ein Mann zum Anlehnen und Kuscheln. Kein Stress, kein Grund dieses perfekte Leben zu ändern. Thomas hatte da eine etwas andere Auffassung und verliebte sich von einem Tag auf den anderen in eine ambitiöse Kollegin und ein anderes Leben. Die Wohnung stand in seinem Namen und wies, was letztlich ausschlaggebend war, einen geräumigen, voll begrünten Südbalkon auf. Ideal für Babys Mittagschlaf an der frischen Luft, zum Trocknen der vielen Kilo Babywäsche und natürlich der abendlichen Entspannung der jungen Eltern über einer Tasse Kaffee .

      Marthe stand alleingelassen, ohne Dach über dem Kopf, dafür aber mit einem fast fertigen Norwegerpulli, den sie für Thomas zum Geburtstag gestrickt hatte. Nach 24 Stunden wütenden Heulens und Schluchzens wischte sie sich die Tränen ab, verstaute ihr weniges Hab und Gut in fünf Umzugskisten und zog als bezahlende Untermieterin zu einer Bekannten nach Wilhelmsburg. Auf einer der dort abgehaltenen Wochenendfeten, die irgendwann im Laufe des Freitagnachmittags ihren Anfang nahmen und sich mit wechselnder Besetzung bis Montagmorgen hinzuziehen pflegten, traf sie Manfred, der als Softwareentwickler bei Medinex arbeitete und ihr vorschlug „bewirb dich doch mal, die haben gute Sozialleistungen.” Manfred war nach einem ebenso kurzen wie heftigen Aufenthalt aus Marthes Leben verschwunden und nach Kalifornien ausgewandert. Sein lapidarer Kommentar: „Ich brauch also echt mal Luftveränderung, Deutschland sucks, also echt, für Leute wie mich liegt da drüben die Zukunft.” Die Medinex AG mit guten Kollegen, interessanten Arbeitsaufgaben und einem köstlichen Salatbuffet war geblieben und beanspruchte den größten Teil von Marthes wacher Zeit. Sie liebte ihre Arbeit, fühlte sich wichtig, tüchtig und unentbehrlich. Deshalb hatte sie sich weder über die schnelle Beförderung zur Projektleiterin noch wenig später zur Bereichsleiterin gewundert. Sie hatte das freundliche Interesse und die lobenden Bemerkungen ihres Chefs rein professionell gedeutet, denn sie war ja tüchtig, effektiv, hatte gute Ideen und konnte mit Kunden umgehen. Dr. Frode Hamann war ein glücklich verheirateter älterer Herr um die 50 mit attraktiver Ehefrau, drei Kindern und Dalmatiner im Endreihenhaus. Marthes überrascht-empörte Zurückweisung seiner handgreiflichen Zudringlichkeiten im Rahmen des seinerseits offenbar allzu wörtlich genommenen get-together-meetings auf der jährlichen Vertriebskonferenz war echt gewesen. Sie hatte Hamann nicht benutzt. Ihre Beförderung war verdient und beruhte ausschließlich auf Leistung. Hamann hatte nur das für einen Chef Natürliche getan und sie als die bestqualifizierte Kandidatin vorgeschlagen. Sie schuldete ihm nichts, außer sich in ihrer neuen Rolle zu beweisen. „Mein Gott du Schaf, wie kann man bloß in deinem Alter noch so naiv sein”, hatte Margrit sie gefragt, nachdem sie der Freundin - um solidarisches Verständnis heischend - den Verlauf des Abends geschildert hatte. „Du kannst dich genauso gut nach was anderem umsehen, in der Firma wirst du nichts mehr.” Einfach aufgeben und kampflos verschwinden, obwohl es nicht ihre Schuld war, sondern seine? Das wäre doch der Gipfel der Ungerechtigkeit, meinte Marthe. Nein, sie würde es diesem Ekelpaket mit den klammen Fingern schon zeigen, wer der Stärkere war. Und blieb. In diesem Punkt waren Marthe und Hamann sich zu 100 Prozent einig. Hamann blieb auch. Seit dem kühlen Frühlingsabend in Düsseldorf, an dem Marthe resolut Frode Hamanns kräftige linke Hand von ihrer rechten Brust entfernt und dem verdutzten, alkoholisierten Angreifer in einer instinktiven Abwehrreaktion und unter Ausdruck verbaler Empörung den Arm auf den Rücken gedreht hatte, besaß sie einen mächtigen Feind in der Firma. Und Hamann ließ sie so oft wie möglich merken, wer der Stärkere war.

      Der Lautsprecher knitterte Unverständliches, der Zug bremste und fuhr kurz darauf leicht ruckelnd in die nächste Station ein. Marthe öffnete die Augen halb. Hoheluftbrücke. Eigentlich hätte sie nichts dagegen gehabt, sich noch ein bisschen so weiterfahren zu lassen und ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Stattdessen zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und griff nach Tasche und Handschuhen. Die lesende Mutter mit dem schniefenden Sohn stand bereits an der Tür, wo sie ihm in farbenfrohen Einzelheiten schilderte, wie man aussähe, wenn man aufgrund unreglementierten Aussteigens aus dem noch fahrenden Zug unter die Räder käme. Der Kleine war sichtlich beeindruckt und klammerte sich an die mütterliche Hand. Er musste ungefähr das Alter von Thomas Jüngstem haben. Dessen Geburtsanzeige war gleichzeitig Thomas letztes Lebenszeichen gewesen. Kurz danach war er mit seiner Familie nach Süddeutschland gezogen. Wegen der Karriere, oder dem Geld nach, wie er sich ausdrückte und seitdem hatte sie nicht einmal mehr die obligatorischen Weihnachtskarten mit den austauschbaren Texten bekommen. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn wir uns damals nicht getrennt hätten, dachte Marthe. Würde ich dann mit zwei rotznäsigen Kleinkindern in einem Dorf auf der Alb sitzen und eine Müttergruppe gründen? Allein der Gedanke ließ sie erschauern. Nein, wohl kaum. Kinder waren süß, sie liebte ihre knuddeligen Nichten und Neffen, aber im Moment hatte sie absolut kein Bedürfnis. Sie fühlte sich noch viel zu jung für die Mutterrolle, dafür hatte sie noch viele Jahre Zeit. Jetzt galt es erstmal, das Leben in vollen Zügen zu genießen und das ging am besten zu zweit und ohne Kinderwagen. Marthe floss mit dem Menschenstrom in Richtung Rolltreppe und tauchte aus der glitzernden Helle des U-Bahn Schachts in die dunkle Kälte der Oberwelt, wo sie fröstelnd an der roten Ampel wartete. Der Duft von Grillwürstchen und gebrannten Mandeln aus den kleinen Buden eines intermistischen Marktplatzes behauptete sich selbst gegenüber der kräftigen Abgaswolke der anfahrenden Autos. Marthe lief das Wasser im Mund zusammen. Der Kühlschrankinhalt war soweit sie sich erinnerte ziemlich unattraktiv, und sie beschloss beim Chinesen vorbeizugehen. Und zur Sicherheit auch gleich noch beim Zeitschriftenhändler Lotto zu spielen. Wahrscheinlichkeitsrechnung hin oder her, einer musste ja gewinnen und sie könnte einen warmen Regen wirklich gut gebrauchen.

      Die Plastiktüte mit der süßsauren Ente entsandte köstliche Düfte und Marthe kramte hektisch in ihrer Handtasche nach dem Haustürschlüssel. Das Mittagessen in der Kantine hatte sie ausfallen lassen und jetzt kam zur Strafe der Heißhunger. Sie stemmte ihre Schulter gegen die schwere Holztür, balancierte Handtasche, Plastiktüte und rechten Handschuh in der linken Hand und tastete nach dem Lichtschalter. Das Treppenhauslicht erwachte mit einem satten Klick zum Leben und fast gleichzeitig stieß Marthe einen spitzen Überraschungsschrei aus. Emilie Finkenstein, Hausbesitzerin und uneingeschränkte Herrin über neun Mietparteien stand stumm und regungslos im gleißenden Licht auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock und sah anklagend aus. Was an und für sich nichts Überraschendes war, da Frau Finkenstein seit dem Tod ihres Mannes während der 63er Sturmflut konstant einer lebenden Anklage glich. „Stellen Sie sich mal vor, der Mann hat einen Lungendurchschuss, Stalingrad, die Jahre beim Russen und die TB überlebt und dann ertrinkt er mitten im schönsten Frieden, weil er eine Katze retten will!" Diesen Satz pflegte Frau Finkenstein mit einem vehementen, durch die Nüstern ihrer schmalen Nase gepressten verächtlichen Schnaufen lautmalerisch zu unterlegen. In Marthes Augen war die Episode mit der Katze eigentlich ein sehr sympathischer Zug an diesem Herrn Finkenstein, dem sie nur als streng blickenden, uniformierten Soldaten im Silberrahmen auf Frau Finkensteins Fernseher begegnet war. Aber das sagte sie natürlich nie laut, so wie sie überhaupt versuchte, mit ihrer Vermieterin auf gutem Fuß zu stehen, auch wenn das normalerweise das Äußerste ihrer begrenzten diplomatischen Fähigkeiten erforderte. Zentral gelegene Mietwohnungen in Hamburg waren rar. Bezahlbare, zentral gelegene Mietwohnungen im schönsten Jugendstil mit Parkettfussboden und 4,20 m Deckenhöhe waren Gold wert. Sie hatte diese Perle in der Isetrasse über die Bekannte einer