Die Wärme der vollaufgedrehten Heizung, das Vibrieren der Elektromotoren und die müde Stille der vornehmlich lesenden Mitpassagiere im Wagen ließen Marthe dösig werden. Eigentlich gar nichts so schlecht mit der U-Bahn, einfach reinsetzen und fahren lassen. Entspannender als mit dem Auto im Stau zu stehen. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss erschöpft die Augen. Vielleicht sollte sie sich selbst und Hamann den Gefallen tun und kündigen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sich der Nervenkrieg mit Hamann allmählich negativ auf die meisten Bereiche ihres Lebens ausgewirkt und das hatte sie gründlich satt. Morgens stellte sich immer seltener das beschwingte Gefühl ein, mit dem sie in der ersten Zeit zur Arbeit gefahren war. Statt positiver Adrenalinstösse Überproduktion von Magensäure. Sie hatte sich bereits ein paar Mal dabei erwischt sich vorzustellen, auf welche Weise sie ihm ihre Kündigung präsentieren würde.
Phantasievorstellungen dieser Art waren geistige Lachsbrötchen, Balsam für ihr lädiertes Ego, brachten sie in der Realität jedoch keinen Schritt weiter. Aber von irgendetwas musste sie ja schließlich leben und sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, eine neue Stelle zu finden. Die Wirtschaft klagte über fehlende Aufträge, stagnierende Umsätze. Aber das hatte sie eigentlich schon immer getan, egal ob die Konjunktur gut oder schlecht war. Sie würde ihre Firma nicht groß vermissen und ihre Firma würde sie ebenfalls kaum lange vermissen. Im Feld der umtriebigen männlichen Endzwanziger mit den großen Armbewegungen und dem richtigen Aftershave dürfte es kaum Schwierigkeiten bereiten, schnell ihren Nachfolger finden. Die naive Vorstellung, dass die Firma am persönlichen Wohl ihrer Mitarbeiter interessiert war, sie förderte, nach individuellem Einsatz und Verdienst beurteilte, hatte Marthe bereits nach dem ersten Jahr gründlich revidieren müssen. Wenn man nach oben wollte, eine Karriere anstrebte, dann erforderte das einen guten Draht zur Leitung und hier waren gemeinsamer Hintergrund oder gemeinsame Interessen mit dem Vorgesetzten ausschlaggebender als fachliche Kompetenz. Manchmal stand die fachliche Kompetenz sogar dem Aufstieg direkt im Weg, weil sie seitens des Vorgesetzten als potentielle Bedrohung für die eigene Stellung angesehen wurde. Mitgliedschaften im richtigen Tennis- oder Segelklub, diskretes Namedropping in den unformellen Gesprächen zu Firmenfeiern und bei den großen Events. Das waren die Erfolg versprechenden Strategien. Und natürlich das unablässige Verbinden des eigenen Namens mit geglückten Projekten. Egal ob jährlicher Firmenausflug oder internationale Fachmesse, das Ziel war erst erreicht, wenn man seinen Namen mit diesem Projekt verknüpft und bei den richtigen Leuten in Erinnerung gebracht hatte. Später galt es natürlich gegenüber denen, die einem behilflich gewesen waren, die gute Botschaft weiterzuverbreiten, Dankbarkeit und Loyalität zu zeigen. Selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Grad. Spätestens, wenn man sich daran machte, den Stuhl seines Mentors zu erobern, war es angeraten - natürlich unter Einhaltung eines gewissen Fairplay - von Dankbarkeit auf Wettbewerb umzuschalten. Anfänglich so diskret, dass alle außer dem Opfer selbst es bemerkten, je subtiler desto besser.
Als Marthe 1984 an einem sonnigen Aprilmorgen im dezenten, neuerworbenen Hosenanzug, bestückt mit kräftigen Schulterpolstern, die ihrer schmalen weiblichen Schulterpartie etwas von der Robustheit eines Rugbyspielers verliehen, ganz im modischen Trend zu ihrem ersten Arbeitstag in der Vertriebsabteilung der Medinex AG antrat, wusste sie von allen diesen Dingen gar nichts. In der Rückschau eine unbegreifliche Naivität. Damals war Marthe
sicher, dass man sie unter den zahlreichen Mitbewerbern aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz ausgewählt hatte und dass sie sich eben zum richtigen Zeitpunkt bei der richtigen Firma beworben hatte. Ganz einfach. Die Medinex AG produzierte elektronische Überwachungsgeräte für Krankenhäuser. Herzfrequenz, Blutdruck und Blutgaswerte, alle lebenswichtigen Parameter waren in Form vom informativen Kurven auf dem Monitorschirm ablesbar. „Wir produzieren die Kästen, die auf den Stationen dafür sorgen, dass es piepst und blinkt“, pflegte Marthe zu sagen, wenn sie Uneingeweihten ihre Branche, in die sie rein zufällig und völlig unkritisch reingerutscht war, beschreiben wollte. Der Markt schrie nicht unbedingt nach Geisteswissenschaftlern, als sie an einem eiskalten Februarmorgen endlich mit ihrer Magister-Urkunde in der Tasche auf den Vorplatz des Universitätssekretariats trat und sich in euphorischer Freude darüber, dem akademischen Prüfungsstress ein für alle mal entronnen zu sein, eine Zigarette anzündete. Und Marthe schrie eigentlich auch nicht nach einem Job. Am liebsten hätte sie ihr behaglich freies Studentenleben fortgesetzt. Fester Freund, billige Wohnung, niedrige feste Ausgaben, ein bisschen Bafög, gutbezahlte Ferienjobs, monatelange Reisen in den Semesterferien. So hätte es alles ihrer Meinung nach gerne weitergehen können. Ihre Berufsvorstellungen waren diffus - irgendetwas mit Schreiben. Oder PR-Arbeit. Oder vielleicht Journalistin? Die Bewerbungen um eine Praktikantenstelle bei den großen Tageszeitungen, bei der ARD und oder dem ZDF waren erfolglos. „Die geburtenstarken Jahrgänge, Sie wissen schon, bei uns kommen auf jede freie Stelle so viele qualifizierte Bewerber – es tut uns wirklich leid. Aber probieren