Wilhelmina. Susanne B. Kock. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne B. Kock
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844233919
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wie Scheidung - was nun? Entschlacken, entwässern, entspannen - sanfter Kampf den Kilos! verschwand. Marthe lehnte sich soweit wie möglich in ihrem Sitz zurück, um dem nächsten Virennebel auszuweichen und starrte mangels Lektüre aus dem Fenster, direkt in die Finsternis des U-Bahntunnels. Das war jetzt das dritte Mal in diesem Monat, dass der Wagen nicht ansprang, der Weg in die Werkstatt war wohl unumgänglich. Ob sich das Rumreparieren überhaupt noch lohnte? Vielleicht sollte sie doch lieber einen Neuen kaufen, damit sie endlich Ruhe vor diesen ewigen unerwarteten Rechnungen hatte. Rechnungen! Marthe schloss die Augen und visualisierte den letzten Kontoauszug. Wenig aufmunternd oder wie Hamann bei unzureichenden Prästationen seiner Mitarbeiter mit lispelndem Sprühregen auszustoßen pflegte einfach un-ttsssu-frieden-ssstellend! Mein Gott Hamann, die niederträchtige alte Schlange. Wenn sie ihn auch in dem für morgen anberaumten Gespräch nicht zu einer passenden Gehaltserhöhung bewegen konnte, dann musste sie sich wohl ganz ernsthaft nach einer neuen Firma umsehen, um mehr Geld zu verdienen. Beförderungen waren in Ordnung, aber Beförderungen ohne entsprechende gehaltliche Konsequenzen waren unakzeptabel. Und die Gehaltserhöhung, die mit ihrer Ernennung zur Bereichsleiterin Marketing erfolgt war, konnte wirklich nur als Witz bezeichnet werden. Zum x-ten Mal malte sie sich das Gespräch mit Dr. Frode Hamann, ihrem Boss und dem technischen Leiter der Medinex AG aus. Er würde wieder mit seinem jovialen ich-wollte-ich-könnte Ihnen-in-dieser-Sache-entgegenkommen-Lächeln im ergonomisch korrekten dreh- und wippbaren lederbezogenen Schreibtischstuhl sitzen, die Fingerspitzen gegeneinander pressen und seine vollen Lippen zu einem spitzen Kussmund formen, der Marylin Monroe neidisch gemacht hätte. Oder seine plumpe, teigigweiße Hand mit den manikürten Fingern liebkosend über das dichte, pechschwarze und garantiert gefärbte Haar fahren lassen. Ab und zu würde er mit Daumen und Zeigefinger die Spitzen seines affigen Schnurrbartes bearbeiten und ihr dabei interessiert-betrübt in die Augen schauen. Sie hingegen würde auf dem designmäßig korrekten, aber unbequemen Besucherstuhl hocken und sich wie immer zusammennehmen müssen, um ihm nicht den Plastikbecher mit dem bitteren Kaffee ins Gesicht zu schleudern. „Sie kennen ja unsere finanzielle Situation Fräul… ähh Frau Twiete, mir sind da einfach die Hände gebunden.” Marthe kannte die finanzielle Situation der Firma und wusste, dass die paar Tausend mehr im Jahr, die für die Firma nichts, aber für sie sehr viel bedeuteten, aus Prinzip abgelehnt wurden. Er wollte sie dazu bewegen, selbst zu kündigen. Frode Hamann hatte mit allen Mitteln versucht, ihre Beförderung zu verhindern, hatte dabei aber beim alten Schneider, Direktor von Gottes und eigenen Gnaden wie ihn die Mitarbeiter nannten, auf Granit gebissen. „Sie ist tüchtig, sie ist effektiv, sie hat die Abteilung im Griff und was am wichtigsten ist - die Kunden lieben sie. Und außerdem Hamann”, hatte Schneider mit einem pfiffigen Grinsen hinzugefügt, „wir müssen ja hier auch mit der Zeit gehen, können doch auf Dauer nicht mit einer einzigen Frau im Personalbereich leben, nicht wahr. So jetzt mal nicht so negativ, ihr rauft euch schon zusammen, sie ist ja immer noch eine Etage unter dir.” Schneider hatte Hamann aufmunternd zugenickt und demonstrativ zur Lesebrille gegriffen. Das war's, die Unterredung war beendet und Hamann hatte sich geflissentlich entfernt, mit dem verbindlichen Lächeln intakt, unter dem er in der Firma die vielen Gefühlsregungen, die sich trotz aller Anstrengungen seinerseits nicht gänzlich unterdrücken ließen, verbarg. „Eine Etage unter mir”, schnaubte er, als er sich außer Hörweite des Chefbüros wähnte. „Wenn's nach mir ginge, wäre die im zweiten Deck der Tiefgarage … als Parkscheinentwerter, hahaha.“ Hamann musste lachen, so gut fand er seinen eigenen Witz. Schade, dass er ihn gerade niemandem weitererzählen konnte.

      Die Wärme der vollaufgedrehten Heizung, das Vibrieren der Elektromotoren und die müde Stille der vornehmlich lesenden Mitpassagiere im Wagen ließen Marthe dösig werden. Eigentlich gar nichts so schlecht mit der U-Bahn, einfach reinsetzen und fahren lassen. Entspannender als mit dem Auto im Stau zu stehen. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und schloss erschöpft die Augen. Vielleicht sollte sie sich selbst und Hamann den Gefallen tun und kündigen. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sich der Nervenkrieg mit Hamann allmählich negativ auf die meisten Bereiche ihres Lebens ausgewirkt und das hatte sie gründlich satt. Morgens stellte sich immer seltener das beschwingte Gefühl ein, mit dem sie in der ersten Zeit zur Arbeit gefahren war. Statt positiver Adrenalinstösse Überproduktion von Magensäure. Sie hatte sich bereits ein paar Mal dabei erwischt sich vorzustellen, auf welche Weise sie ihm ihre Kündigung präsentieren würde.

      Phantasievorstellungen dieser Art waren geistige Lachsbrötchen, Balsam für ihr lädiertes Ego, brachten sie in der Realität jedoch keinen Schritt weiter. Aber von irgendetwas musste sie ja schließlich leben und sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, eine neue Stelle zu finden. Die Wirtschaft klagte über fehlende Aufträge, stagnierende Umsätze. Aber das hatte sie eigentlich schon immer getan, egal ob die Konjunktur gut oder schlecht war. Sie würde ihre Firma nicht groß vermissen und ihre Firma würde sie ebenfalls kaum lange vermissen. Im Feld der umtriebigen männlichen Endzwanziger mit den großen Armbewegungen und dem richtigen Aftershave dürfte es kaum Schwierigkeiten bereiten, schnell ihren Nachfolger finden. Die naive Vorstellung, dass die Firma am persönlichen Wohl ihrer Mitarbeiter interessiert war, sie förderte, nach individuellem Einsatz und Verdienst beurteilte, hatte Marthe bereits nach dem ersten Jahr gründlich revidieren müssen. Wenn man nach oben wollte, eine Karriere anstrebte, dann erforderte das einen guten Draht zur Leitung und hier waren gemeinsamer Hintergrund oder gemeinsame Interessen mit dem Vorgesetzten ausschlaggebender als fachliche Kompetenz. Manchmal stand die fachliche Kompetenz sogar dem Aufstieg direkt im Weg, weil sie seitens des Vorgesetzten als potentielle Bedrohung für die eigene Stellung angesehen wurde. Mitgliedschaften im richtigen Tennis- oder Segelklub, diskretes Namedropping in den unformellen Gesprächen zu Firmenfeiern und bei den großen Events. Das waren die Erfolg versprechenden Strategien. Und natürlich das unablässige Verbinden des eigenen Namens mit geglückten Projekten. Egal ob jährlicher Firmenausflug oder internationale Fachmesse, das Ziel war erst erreicht, wenn man seinen Namen mit diesem Projekt verknüpft und bei den richtigen Leuten in Erinnerung gebracht hatte. Später galt es natürlich gegenüber denen, die einem behilflich gewesen waren, die gute Botschaft weiterzuverbreiten, Dankbarkeit und Loyalität zu zeigen. Selbstverständlich nur bis zu einem gewissen Grad. Spätestens, wenn man sich daran machte, den Stuhl seines Mentors zu erobern, war es angeraten - natürlich unter Einhaltung eines gewissen Fairplay - von Dankbarkeit auf Wettbewerb umzuschalten. Anfänglich so diskret, dass alle außer dem Opfer selbst es bemerkten, je subtiler desto besser.

      Als Marthe 1984 an einem sonnigen Aprilmorgen im dezenten, neuerworbenen Hosenanzug, bestückt mit kräftigen Schulterpolstern, die ihrer schmalen weiblichen Schulterpartie etwas von der Robustheit eines Rugbyspielers verliehen, ganz im modischen Trend zu ihrem ersten Arbeitstag in der Vertriebsabteilung der Medinex AG antrat, wusste sie von allen diesen Dingen gar nichts. In der Rückschau eine unbegreifliche Naivität. Damals war Marthe

      sicher, dass man sie unter den zahlreichen Mitbewerbern aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz ausgewählt hatte und dass sie sich eben zum richtigen Zeitpunkt bei der richtigen Firma beworben hatte. Ganz einfach. Die Medinex AG produzierte elektronische Überwachungsgeräte für Krankenhäuser. Herzfrequenz, Blutdruck und Blutgaswerte, alle lebenswichtigen Parameter waren in Form vom informativen Kurven auf dem Monitorschirm ablesbar. „Wir produzieren die Kästen, die auf den Stationen dafür sorgen, dass es piepst und blinkt“, pflegte Marthe zu sagen, wenn sie Uneingeweihten ihre Branche, in die sie rein zufällig und völlig unkritisch reingerutscht war, beschreiben wollte. Der Markt schrie nicht unbedingt nach Geisteswissenschaftlern, als sie an einem eiskalten Februarmorgen endlich mit ihrer Magister-Urkunde in der Tasche auf den Vorplatz des Universitätssekretariats trat und sich in euphorischer Freude darüber, dem akademischen Prüfungsstress ein für alle mal entronnen zu sein, eine Zigarette anzündete. Und Marthe schrie eigentlich auch nicht nach einem Job. Am liebsten hätte sie ihr behaglich freies Studentenleben fortgesetzt. Fester Freund, billige Wohnung, niedrige feste Ausgaben, ein bisschen Bafög, gutbezahlte Ferienjobs, monatelange Reisen in den Semesterferien. So hätte es alles ihrer Meinung nach gerne weitergehen können. Ihre Berufsvorstellungen waren diffus - irgendetwas mit Schreiben. Oder PR-Arbeit. Oder vielleicht Journalistin? Die Bewerbungen um eine Praktikantenstelle bei den großen Tageszeitungen, bei der ARD und oder dem ZDF waren erfolglos. „Die geburtenstarken Jahrgänge, Sie wissen schon, bei uns kommen auf jede freie Stelle so viele qualifizierte Bewerber – es tut uns wirklich leid. Aber probieren