Toromic erwähnte nicht, dass außer ihm selbst Borix der einzige unter den Männern gewesen war, der sich noch an das Tier herangewagt hatte. Die übrigen Jäger hatten mit von abergläubischer Furcht gezeichneten Gesichtern um den Kadaver herumgestanden. Er erhob die Stimme und breitete seine Arme aus: „Ich halte die Vorgänge für ein schlechtes Omen!“
Unruhe machte sich breit. Viele Krieger schlugen vor ihre Brustplatten, das Abwehrzeichen gegen böse Geister. Heftige Diskussionen setzten ein.
Boudina war aufgeregt. Schwer atmend stand sie an den Pfosten gelehnt, von dem aus sie die Ereignisse verfolgt hatte, und sah sich hektisch um. Die Erzählung Toromics ängstigte sie, vor allem aber zerrte die allgemeine Unruhe an ihren Nerven. Während ihr Blick wieder zu Toromic wanderte, der ihr mittlerweile wie ein düsterer Bote des Unheils erschien, glaubte sie plötzlich etwas Seltsames zu hören; etwas, dass wie ein weit entferntes Rauschen klang. Sie riss die Augen auf. Was war das? Da, wieder! Wie das ferne Dröhnen eines Wasserfalls klang es in ihrem Kopf. Sie schüttelte sich, als müsse sie wach werden, doch das Geräusch blieb und deckte langsam den Lärm der Umgebung zu. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als würde sich eine Hand auf ihren Hinterkopf legen, ganz sachte, doch deutlich fühlbar. Boudina fuhr herum, aber es stand niemand hinter ihr. Panik beschlich sie. Ihr Atem ging heftig und sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Ihre Finger krallten sich in den Balken, an dem sie bis eben noch gelehnt hatte. Mühsam versuchte die Tochter Helweds ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Was geschieht mit mir? fragte sie sich entsetzt …
... In der heimischen Hütte gab Helwed ein überraschtes Keuchen von sich. Der Raum war in eine Wolke gräulichen Rauchs gehüllt, den nur die Flammen der Feuerstelle geisterhaft durchglühten. Es stank nach verbranntem Fliegenpilz und Stechwurz. Helwed kniete vornübergebeugt auf dem Boden. Sie schien zu beten, doch ihr Geist befand sich nicht hier. Sie hatte schließlich die Kräuter gefunden, die sie für eine Trance benötigte, und sofort begonnen, mit der Anderswelt, der Welt der Ahnen, Kontakt aufzunehmen. Ihr Geist hatte ihren Körper verlassen und war durch die Gefilde zwischen den Welten gewandert, um ein Ziel in dieser Welt zu erreichen. Sie wollte wissen, wie es Boudina erging. Doch etwas stimmte nicht. Üblicherweise tauchte sie in den Verstand eines sensiblen Menschen ein, um mit dessen Sinnen ihre Umgebung wahrnehmen zu können. Dabei musste sie unendlich behutsam vorgehen, denn in diesem Stadium der Suche wusste sie nie, wessen Körper sie betrat. Erst wenn sie in den Geist eines Menschen eingedrungen war, konnte sie dessen Gedanken fühlen und durch seine Augen sehen. Vorher blieb ihr nur blindes Tasten. Es gab Menschen, in die einzudringen, einfach war, und andere, bei denen es sich als fürchterlich schwer erwies. Doch ganz gleich, zu welcher Sorte der Erwählte zählte - ein Mensch der ihre Anwesenheit bemerkte, geriet meist außer sich und konnte ernsthaften Schaden erleiden. Gerade hatte sie einen Impuls gespürt, der eindeutig von Boudina kam. Sie musste ungewollt ihren Geist berührt haben, und Boudina hatte es bemerkt. Bei den Göttern! So besaß ihre Tochter diese Fähigkeit ebenfalls. Helweds Leib zuckte, während ihr Geist ihre Gedanken konzentrierte. Unendlich sachte gab sie den Impuls an Boudina zurück ...
... Boudina riss die Augen auf. Ihre Knie zitterten.
„Mutter?!“
Plötzlich war sie sich ganz sicher, dass ihre Mutter in der Nähe war. Ihr fiel auf, dass sie laut gesprochen hatte, doch in dem sie umgebenden Durcheinander wild geführter Diskussionen hatte niemand ihr seltsames Verhalten bemerkt. Mit sanfter Klarheit wurde ihr auf einmal bewusst, dass ihre Mutter tatsächlich hier war, dass sie sie in ihrem Geist wahrnahm. Schwer atmend, die Augen geschlossen, mit vor Konzentration verzogenem Gesicht lauschte sie in sich hinein. Wellen von Wärme und Geborgenheit durchfluteten sie, ein Gefühl, so tief, dass alle Angst von ihr abfiel und sie vor Glück am liebsten aufgelacht hätte. Ihre Mutter war in ihr! Als sie die Augen öffnete, wusste sie, dass Helwed alles sehen konnte was sie sah ...
Toromic brachte die Anwesenden mit einer Geste zum Schweigen. „Da zurzeit keine Derwydd unser Land bereisen, müssen wir auf den einzigen setzen, der die Gabe besitzt, das Zukünftige zu schauen - meinen Bruder Tarcic.“
Zustimmende Rufe wurden laut.
„Ja, lasst Tarcic die Runen befragen!“
„Der Seher soll es uns zeigen!“
Toromic wandte sich an Tarcic. „Wirst du die Runen für uns befragen, Vates?“
Tarcic erhob sich schwerfällig. „Für unsere Sicherheit, die Sicherheit des Clans der Selgovater, will ich versuchen, die Zeichen der Götter zu lesen“, verkündete er mit schwerer Zunge. Toromic nickte und setzte sich. Nun musste sein Bruder die Angelegenheit in die Hand nehmen und alle weiteren Weisungen erteilen.
„Bringt mir Schädel und Herz des Tieres und den Opferdolch, den mir der Liaig damals für die Zeremonie weihte“, befahl Tarcic.
Einige Sklaven verließen das Versammlungshaus, um das Gewünschte zu beschaffen.
Tarcic ging zum Feuer und ließ sich unmittelbar davor nieder.
Wieder war andächtiges Schweigen eingetreten.
Er holte den Beutel, in dem sich die heiligen Runen befanden, unter seinem Mantel hervor. Es waren die Fingerknochen von Chutomonic, dem ältesten Clanführer der Selgovater, dessen Gebeine noch erhalten waren. Sein einbalsamierter Schädel hing neben denen der übrigen Clanführer und der bedeutendsten Feinde der Selgovater unter dem Dach des Versammlungshauses.
Und noch ein anderes Haupt hing dort oben. Der Schädel eines caledonischen Druiden.
Als Tarcic an den Mann dachte, dem dieser Schädel einst gehört hatte, durchzuckte die Erinnerung an die große Schlacht seinen durch Met und stundenlange Meditation erweiterten Geist ...
Der Hieb des Druiden
Acht Jahreswechsel waren verstrichen. Acht Mal war Samhain, das Fest der Toten, gefeiert worden, acht Mal Lugnasad, das Fest des Lug, acht Mal Imbolc und Beltene, seit die große Schlacht stattgefunden hatte. Es war im Frühjahr gewesen, der Zeit der Raubzüge, Viehdiebstähle und großen Kämpfe. Ein Caledonierheer, unter Führung des Vacomagerkönigs Mac o Tauroc, war ohne Vorwarnung in die nördlichen Ländereien der Selgovater einmarschiert und hatte innerhalb kürzester Zeit drei Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht. Die caledonischen Horden metzelten alles nieder, was ihnen vor die Waffen lief. Nur wenige Selgovater der nördlichen Clans entkamen. Diejenigen, die die Massaker überlebten, schlugen sich bis zum Dorf der Selgovater durch und warnten Toromic und Tarcic vor der Gefahr.
Sie berichteten, dass die Zahl der Angreifer sehr groß sei. Man habe viele hundert Krieger gesehen und vielleicht folgten auf diese noch weitere. Was das zu bedeuten hatte, war den Brüdern klar: Mac o Tauroc wollte sich Selgovatergebiet einverleiben. Mit einem solch großen Heer, wie es die Überlebenden beschrieben, zog man nicht aus, um ein paar Rinder zu rauben. Über lange Zeit hinweg war es zwischen den Selgovatern und den Caledoniern lediglich zu Grenzscharmützeln oder kleineren Feldschlachten gekommen. Diese Auseinandersetzungen hatten der Bestätigung der unsichtbaren Grenze zwischen den beiden Volksstämmen gedient. Niemand hatte jedoch ernsthaft versucht, dem Feind ein größeres Gebiet abzuringen.
Das schien sich nun geändert zu haben. Den Vacomagerkönig, Mac o Tauroc, verlangte es offensichtlich nach Beute und Land. Das galt es um jeden Preis zu verhindern.
In großer Eile hatten Toromic und Tarcic alle verfügbaren Krieger der benachbarten Clans zusammengetrommelt und eine Streitmacht gebildet. Gleichzeitig wurden Boten zu den verbündeten Brigantern entsandt.
Unter dem Oberbefehl der Brüder zogen die Krieger der vereinigten Selgovaterclans den Caledoniern entgegen.
Als die Späher Toromic und Tarcic die Stärke der Feinde mitteilten, wurden die Brüder blass. Die Überlebenden hatten nicht übertrieben. Es waren Hunderte von Caledoniern gesichtet worden!