Kurze Zeit darauf, mitten in der Nacht, ließ Tarcic nach Toromic schicken. Als Toromic die Hütte betrat, sah er Tarcic mit Schweiß bedeckter Stirn am Feuer sitzen. Auf die Frage, wo sein Weib und seine Sklaven seien, antwortete er nicht. Toromic setzte sich zu ihm. „Was willst du zu so später Stunde von mir?“
Tarcic war leichenblass. „Ich habe eine Vision gehabt.“
Toromic wollte gar nicht wissen, was sein Bruder gesehen hatte. Er versuchte so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Beunruhige dich nicht, Bruder. Schon viele tapfere Krieger haben nach einer Schlacht die Geister ihrer getöteten Feinde gesehen.“
Tarcic sah ihn seltsam an. „Ich sah keine Geister, es waren ...“
Toromics Hals schnürte sich zu. Er hatte das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen würde, wenn er erfuhr, was Tarcic gesehen hatte. Er erhob sich rasch. „Schlafe nun, Bruder, am Morgen wollen wir zur Jagd reiten.“
Tarcic blickte ihm seltsam nach, als er fluchtartig die Hütte verließ.
Doch schon Tage später holte den Häuptling der Selgovater die Wahrheit ein. Tarcic ließ abermals nach ihm rufen, und dieses Mal war sein Bruder einem Zusammenbruch nahe, als Toromic eintraf.
„Was geschieht mit mir?“ rief er, als Toromic die Hütte betrat.
Mit Schrecken sah Toromic, dass Tarcic völlig bleich war und am ganzen Körper zitterte.
„Ruhig, Bruder, was ist mit dir?“, fragte er vorsichtig.
Tarcic ließ sich keuchend am Feuer nieder und berichtete, dass er abermals von Visionen überfallen worden sei. Während des Beischlafs mit seiner Frau, bei Schwertübungen, auf der Jagd und bei Wettkämpfen. Erst habe er versucht, sie zu ignorieren, doch jetzt sei er am Ende seiner Kräfte.
„Was hast du gesehen?“ fragte Toromic gedehnt. Tarcic antwortete mit brüchiger Stimme: „Ich konnte in die Zukunft blicken. Die Geister unserer Ahnen erschienen mir und wiesen mir den Weg zu Orten, an denen ich sah, was sich in der Zukunft ereignen kann.“
Toromic schluckte. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit fester Stimme: „Niemand darf davon erfahren.“
„Aber was sollen wir tun?“ fragte Tarcic. „Ich ertrage das nicht länger.“
Toromics Blick ging in die Ferne, während seine Finger unbewusst seinen mächtigen Häuptlingstorques umspielten.
„Ich werde die Derwydd herbei bitten.“
Tarcic starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an: „Du wirst was?!“
Toromics Stimme war rau, als er fortfuhr: „Sie werden dich prüfen, die Kraft untersuchen und darüber urteilen, ob du sie rechtmäßig erlangt hast. Sie werden herausfinden, ob wir lügen, denn sie sind den Göttern näher als wir. Sie werden entscheiden, ob wir für unsere Frevel bezahlen müssen. Ich habe das Versteckspiel satt.“
„Aber wir können doch nichts dafür, dass ein Druide an den Kämpfen teilnahm, obwohl es verboten ist“, wandte Tarcic ein.
„Ich bin mir sicher, dass das vor den Augen der Götter keine Rolle spielt“, entgegnete Toromic bitter.
Und so hielten Toromic, Tarcic und Shana die wahren Umstände von Tarcics Verwundung vor den übrigen Clanangehörigen geheim und verbreiteten statt dessen die Mär, Tarcics Geist sei während seines Fiebers im Totenreich der Ahnen, der Anderswelt, gewesen und habe von den Geistern seiner Vorfahren die Gabe des Hellsehens erhalten.
Die Versammlung der Krieger glaubte den Brüdern, und so war die unmittelbare Gefahr gebannt.
Nach anfänglicher Panik bemerkte Tarcic, dass ihn körperliche und seelische Anstrengungen sensibler für die plötzlichen Heimsuchungen machten, dass ihr Kommen in gewissem Maße vorhersehbar war, was den Visionen schließlich ihre Schrecken nahm. Mit der Zeit gelang es ihm sogar, die Möglichkeiten, die ihm seine Fähigkeit bot, zu nutzen. Er konnte, während er sich in Trance befand, undeutlich in die Zukunft blicken.
Toromic hatte inzwischen die im Lande umherziehenden Druiden herbei gebeten, damit sie seinen Bruder begutachten und dessen neue Fähigkeiten erforschen sollten. Und auch vor den allweisen Eichenkundigen hielten die Brüder die Geschehnisse der Schlacht geheim. Die Druiden prüften Tarcic, und als sie, die doch über gewaltige Zauberkräfte verfügten, zur Überraschung der Verschwörer nicht erkannten, woher die Fähigkeit des Hellsehens kam, sahen Toromic und Tarcic Hoffnung für sich.
Niemand würde erfahren, was sich auf dem Schlachtfeld zugetragen hatte, es sei denn, die Götter selbst griffen ein und verrieten die Brüder. Wenn danach Druiden das Dorf besuchten, weihten sie Tarcic Schritt um Schritt in die Geheimnisse des Runenwurfes und anderer magischer Praktiken ein.
Er wurde von ihnen als Vates, als Mann der Weissagungen und des Sehens, anerkannt, als ihr spiritueller Vertreter im Dorf, wenn keiner von ihnen verfügbar war. Ein Druide von der gefürchteten Kaste der Cainte lehrte ihn sogar, wie man aus den Eingeweiden von Tier- und Menschenopfern zukünftige Ereignisse lesen und anhand des Fluges der Vögel das Schicksal deuten konnte.
Tarcic übte alles Beigebrachte und versuchte sich in den verschiedenen Arten der kultischen Handlungen. Je mehr er aber seine neue Rolle im Clan auszuüben begann, desto weniger pflegte er seine alten Gewohnheiten und den Kontakt zu seinen Vertrauten und Kriegern.
Seine Frau litt besonders unter den magischen Fähigkeiten ihres Mannes. Bis zu dem Tag der Schlacht war er der Bruder des Häuptlings gewesen, ein berühmter Krieger, in der Blüte seiner Jugend, dem das Recht auf den Häuptlingssitz zustand, sollte Toromic sterben. Ein Mann, dem Kinder zu schenken ihr höchstes Ziel gewesen war.
Doch nun war sie sich nicht mehr sicher. Tarcic war ihr fremd und unheimlich geworden. Oft schrie er im Schlaf oder gab seltsame Laute von sich. Im wachen Zustand war er unkonzentriert und mürrisch und gab sich unnahbar. Wenn die anderen Männer zu Wettkampf oder Jagd aufbrachen, sah er ihnen wehmütig nach, ohne jedoch Anstalten zu treffen, sich ihnen anzuschließen.
Doch erst die Gleichgültigkeit, mit der er über das Schicksal der Gefangenen entschied, sie für die Opferungen auswählte und schließlich tötete, ließ sie ihre Entscheidung fällen. Tarcic hatte nichts mehr mit dem jungen, ungestümen Anführer zu tun, den sie gekannt und geliebt hatte. Eines Tages machte sie von ihrem Recht der freien Männerwahl Gebrauch und verließ ihn.
Wenn die Runen sprechen
... Tarcic war völlig in seine Erinnerungen an die Schlacht und die Geschehnisse danach versunken und bemerkte nicht, dass ihn die übrigen Clanangehörigen verwirrt anstarrten. Boudina lehnte an dem Balken, der ihrem Körper Halt bot, während sie in ihrem Kopf die Stimme ihrer Mutter vernahm: Was ist nur mit ihm?
Boudina konzentrierte sich. Im ersten Augenblick fiel es ihr nicht leicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen, doch schließlich gelang es ihr. Ich weiß es nicht. Er scheint sich in Trance zu befinden. Vielleicht gehört das bereits zum Ritual?
Helwed schwieg.
Toromic sah zu Borix. Dieser erwiderte den Blick seines Häuptlings und Freundes und nickte unmerklich. Nachdem die Sklaven das Versammlungshaus verlassen hatten, war Tarcic in eine Art Starre verfallen und hatte sich seitdem nicht mehr gerührt. Er saß vornübergebeugt auf seinem Fell, starrte ins Feuer und bewegte sich nicht. Toromic war unruhig. Er wusste nicht, woran es lag, denn er hatte seinen Bruder schon oft in der Vorphase einer Beschwörung erlebt. Meistens war er stark angetrunken, schlecht ansprechbar und der Welt entrückt. Doch irgendetwas war heute anders als sonst. Auch die übrigen Anwesenden schienen es zu spüren. Die Edlen und Hohen steckten die Köpfe zusammen, die Krieger raunten sich Dinge zu, und in den hinteren Reihen wurde