Eine Katze!
Wieder sieht Gerrit das blasse Gesicht seiner Schwester Nina vor sich. „Ich will wieder nach Hause!“, und er denkt wieder an die Katze auf ihrem Arm.
Gerrit kennt die Katze, die Nina in seinen Träumen umklammert hält. Nie wieder wird er sie vergessen. Sie spukt Tag und Nacht in seinem Kopf herum, unheilbringend und für ihn der Schlüssel zum Verschwinden der Kinder.
Sie war eine besonders große Katze, mit derart leuchtend grünen Augen, wie Gerrit sie noch nie gesehen hatte. Ihr Fell war wuschelig, grau und mit schwarzen Streifen darin, die wie Ornamente wirkten.
Ja, Gerrit kennt diese Katze und war ihr schon begegnet.
Als er vor zwei Jahren bei einem Klassenkameraden den Nachmittag verbrachte, saß sie plötzlich auf dessen Gartenmauer und sah Gerrit an. Er dachte damals, dass sie Andreas gehört und streichelte sie. Als dieser dann mit einem Eis aus dem Haus kam, war sie schnell verschwunden.
Aber am Abend, als er auf dem Heimweg war, hatte sie mitten auf dem Fahrradweg gesessen.
Gerrit war angehalten und vorsichtig auf sie zugegangen, denn irgendetwas an dem Tier machte ihm Angst. Er war sowieso kein großer Katzenfreund. Sein Traum war immer ein Hund gewesen, so ein Colli wie Lessie oder ein Berner Sennenhund oder Golden Retriever.
„Hallo, Miezekatze! Was machst du denn hier, so weit weg von zu Hause?“
Er hatte ja zu diesem Zeitpunkt noch gedacht, sie gehöre Andreas.
Schnurrend hatte sie sich erhoben und war um seine Beine gestrichen, woraufhin er sie gestreichelt hatte. Sie war sogar schnurrend und nach Streicheleinheiten lechzend auf seinen Schoß geklettert, als er sich hinhockte.
Doch Gerrit hatte an diesem Tag nicht viel Zeit gehabt. Aber als er sein Fahrrad besteigen wollte, begann die Katze fürchterlich zu mauzen und zu jammern.
Er war trotzdem weggefahren, wollte aber am nächsten Tag nach ihr sehen und ihr etwas zum Fressen mitbringen.
Tatsächlich hatte die Katze am folgenden Tag fast an derselben Stelle auf ihn gewartet. Er hatte sie gefüttert und sie sich von ihm ihre Streicheleinheiten geholt.
Das war in etwa der Punkt gewesen, an dem Gerrit zum ersten Mal in seinem Leben dachte, dass auch Katzen unglaublich tolle Tiere sind. Doch dann war sie plötzlich unruhig geworden und von seinem Arm heruntergesprungen. Und sie war losgelaufen und hatte immer wieder geschaut, ob er ihr auch folgte. Und er tat es, weil sie sofort jämmerlich zu mauzen begann, wenn er ihr nicht mehr folgen wollte.
Sie hatte ihn damals zu dem alten Gasthaus in Tütingen gelockt, wo es den Schotterweg gibt, der zu den Tischteichen führt, von denen seine Mutter immer die Forellen kaufte. Dann war sie von der Hauptstraße in eine Nebenstraße eingebogen, die Gerrit damals noch nicht kannte.
Er weiß noch genau, dass ihm vor zwei Jahren das Ganze ziemlich unheimlich vorkam, denn zu dem Zeitpunkt beklagten drei Familien das Verschwinden ihrer Kinder.
Er war der Katze aber dennoch ein Stück gefolgt, bis es ihm zu dumm wurde. Da sie ihn auch nicht mehr an sich herankommen ließ, bis auf ein paar Meter, war er irgendwann stehen geblieben.
Das hatte die Katze erneut mit lautem Gejammer honoriert. Aber Gerrit hatte sein Fahrrad unten auf dem Fahrradweg zurückgelassen und befürchtete, dass es ihm jemand klauen könnte. Daher war er zurückgelaufen, was vielleicht sein Glück war.
Doch am nächsten Tag war er wieder mit einer Tüte voller Leckereien zu der alten Gaststätte geradelt. Dabei hatte er immer wieder Ausschau nach der Katze gehalten und sie tatsächlich auf einem Holzstoß, nicht weit von der Stelle, wo er sie am vorangegangenen Tag stehen gelassen hatte, sitzen gesehen.
Er war zu ihr gegangen und sie hatte sich erneut von ihm streicheln lassen. Doch dann war sie wieder unruhig geworden und wollte auf den Boden gesetzt werden.
Gerrit hatte sich damals gedacht, dass sie ihm vielleicht ein Nest mit kleinen Katzen zeigen wollte, die sie selbst nicht mehr ernähren konnte. Für den Fall hatte er in einer Tüte auf seinem Gepäckträger eine kleine Schüssel und eine Flasche Katzenmilch, die er vor seiner Tour aus dem großen Einkaufsladen gegenüber der Schule geholt hatte.
Als die Katze merkte, dass er ihr folgen wollte, lief sie schnell und zielstrebig dem Wald entgegen, der am Ende der schmalen Straße begann.
Wie leichtgläubig er ihr gefolgt war!
Er kann sich sehr gut vorstellen, dass auch andere Kinder vor ihm das getan hatten … und nach ihm seine Schwester ebenfalls.
Doch die Polizei hatte ihm die Geschichte nicht abgekauft. Dass eine Katze Kinder so weit aus dem Ort lockt, hielten sie für schwachsinnig.
Doch Gerrit ist sich sicher, dass es da einen Zusammenhang gibt. Aber nur er weiß, mit welch einer Beharrlichkeit sie ihn hinter sich hergelockt hatte.
Die Katze war an diesem Tag in die Querstraße eingebogen, die am Waldrand entlangführt. In diesem Wald war er als kleiner Junge mit seinem Vater hin und wieder zum Pilze suchen gegangen und an diesem Tag sollte er der Katze in den Wald folgen.
Der Weg, auf dem sie in den Wald gelaufen war, war sandig und schwer mit dem Fahrrad zu befahren und Gerrit hatte keine große Lust, ihr dort hinein zu folgen. Er war sich nicht sicher, ob er aus dem Wald auch wieder herausfinden würde. Sein Vater hatte ihm einmal erklärt, dass dieses Waldgebiet sehr groß ist. So war er stehengeblieben.
Daraufhin hatte die Katze erneut herzzerreißend gejammert.
„Ich kann dir nicht weiter folgen. Das geht nicht!“, hatte er ihr noch mit einem schlechten Gewissen zugerufen, als könne sie ihn verstehen.
In dem Moment war das Auto seines Nachbarn die Straße hochgefahren und neben ihm angehalten.
„Was machst du denn hier?“, hatte er erbost zu hören gekommen.
Gerrit war es natürlich unangenehm gewesen, dass er von seinem Nachbarn dort draußen erwischt worden war. Er wusste, dass seine Eltern fürchterlich toben würden, wenn sie davon wüssten. Der ganze Ort war damals sowieso schon genug in Aufruhe, weil man immer noch nicht die verschwundenen Kinder gefunden hatte.
„Ich habe mich, glaube ich, verfahren. Ich wollte zu einem Klassenkameraden“, hatte Gerrit seinen Nachbarn angelogen und Stefan war kurzerhand ausgestiegen, hatte Gerrits Fahrrad in den Kofferraum geworfen und Gerrit auf den Beifahrersitz gepflanzt. „Nah, dann ist es ja gut, dass ich hier gerade vorbeigekommen bin.“
Vielleicht war es das wirklich!
Er lieferte Gerrit zu Hause ab, der bedröppelt in sein Zimmer geschlichen war. Er hatte damals wegen der armen Katze ein wirklich schlechtes Gewissen gehabt.
Als Nina mit ein paar Keksen in sein Zimmer kam, erzählte er ihr von dem Tier und er sagte ihr auch, dass die Katze ihm vielleicht ihre Babys zeigen wolle. Und Nina hatte sich genau nachgefragt, wo er alles wegen dem Tier herumgekurvt war. Doch er hatte sich an diesem Abend nichts dabei gedacht.
Am nächsten Tag hatte Gerrit sein Training und konnte nicht nach dem Tier sehen. Doch er tröstete sich damit, dass er am darauffolgenden Tag wieder Zeit hätte.
Als er nach dem Training nach Hause kam, hatte er sich nichtsahnend an seine Hausaufgaben gesetzt und war danach zum Abendessen gegangen, zu dem seine Mutter gutgelaunt gerufen hatte.
Bis zu dem Zeitpunkt war ihre Welt noch in Ordnung. Dass sich das in kürzester Zeit ändern kann und das Schicksal da schon längst seinen Lauf genommen hatte, ohne dass irgendjemand noch etwas daran ändern konnte, erfüllt Gerrit noch jetzt mit einer Fassungslosigkeit, die ihn erkennen lässt, wie unberechenbar das Leben ist.
„Wo steckt Nina heute nur? Sie müsste doch schon längst zu Hause sein“, hatte seine Mutter gesagt und sein Vater war nach draußen gegangen, um sie zu rufen. Aber er fand Nina nicht. Auch nicht, als er die Straßen des Ortes abfuhr.
Seine Mutter