„Wissen Sie eigentlich, warum gerade Amman die Hauptstadt der Ugarit Union sein soll und nicht zum Beispiel Aleppo, Damaskus oder Jerusalem?“ Mit dieser Frage musste Andy den Wissensvorsprung des Heimatlosen anerkennen.
„Aleppo und Damaskus sind geschichtlich und kulturell einfach zu dominant. Jerusalem verfügt über einen zu großen religiösen Hintergrund. Um das Gleichgewicht zwischen Syrien und Israel zu wahren, einigten sich die Ratsmitglieder der Union auf die bescheidenste Metropole der Region – Amman.“
Die Antwort des Heimatlosen kam so emotionslos herüber, als ob es bei der Unterhaltung um etwas vollkommen Belangloses ginge.
„Das ist ähnlich wie bei der EU und Brüssel“, erwiderte Andy lächelnd.
Der Heimatlose verzog keine Miene. Er war zu sehr mit der Entsorgung der Tomatensaft-Utensilien beschäftigt. Mit Mühe schaffte er es, den leeren Becher zu zerdrücken und in die Tasche des Vordersitzes zu quetschen.
Andy warf einen Blick auf ihn. Er musste um die Mitte Sechzig sein, war schlank, elegant gekleidet und hatte einen kahlen Kopf. Er sprach Deutsch mit einem leicht arabischen Akzent. Gelegentlich machte er einen grammatischen Fehler. Andy dachte, dass der Mann eine ähnliche Geschichte wie sein Vater haben und er auch ein syrischer Auswanderer der ersten Generation sein müsse.
„Wissen Sie, welcher Spitzname unter den Menschen meiner Generation für die Ugarit Union verwendet wird?“, fragte der Heimatlose plötzlich.
„Nein?“
„U2.“ Der Heimatlose schmunzelte.
„Sie meinen nach der irischen Rockband?“
„Ja.“
„Mein Vater mochte sie. Ich weiß nur wenig über diese Gruppe. Und was mögen Sie für Musik?“, fragte Andy.
Die hübsche Flugbegleiterin brachte in diesem Moment das Essen. Sie lächelte Andy an. Er hätte gerne gewusst, ob sie ihn wegen der Service- und Kundenorientierung anlächelte oder weil sie ihn persönlich mochte. Als Andy mit dem Essen fertig war, hatte der Heimatlose schon die Kopfhörer auf. Auf dem Bildschirm, der am Vordersitz angebracht war, konnte Andy erkennen, dass er Johann Sebastian Bach hörte. Damit war seine Frage beantwortet.
Andy schaute sich noch einen Film aus dem Jahre 2032 an, in dem Ethan Hawke einen älteren Ingenieur und Aussteiger spielte, der beschlossen hatte, der Zivilisation den Rücken zuzukehren. Mit einem selbstgebauten, autarken Hightech-Schiff segelte er auf „Nimmerwiederanlegen“ los. Enttäuscht musste er am Ende des Films feststellen, dass die Ozeane der Welt voll waren mit Menschen wie ihm. Die Maschine setzte zur Landung an. Der Heimatlose war immer noch mit dem Lesen eines Buches beschäftigt. Das kam Andy richtig antiquiert vor. Das letzte Mal, dass Andy jemanden ein Buch aus richtigem Papier lesen sah, musste vor zwei oder drei Jahren gewesen sein. Sein Buch klappte der Heimatlose erst zu, als die Maschine stoppte und alle Passagiere aufstanden. Andy war gerade dabei, seine Tasche aus dem Gepäckfach zu holen, als er ein leises „Tschüß!“ hörte. Andy nahm die Tasche herunter und wollte gerade antworten, da war sein Sitznachbar schon zwischen den vielen Passagieren verschwunden. „Verzeihung! Könnten Sie mir zumindest Ihren Namen verraten?!“, rief Andy laut. Einige Menschen drehten sich zu Andy um. Der Heimatlose war jedoch nicht darunter.
Das Himmelsfenster von Aleppo
Auf der Suche nach dem Heimatlosen verrenkte sich Andy beim Verlassen der Maschine und auch am Flughafen von Aleppo fast den Hals. Zugegebenermaßen lagen die Chancen, diesen merkwürdigen älteren Herrn zu finden, nicht sonderlich hoch, denn der moderne Flughafen der florierenden Metropole war riesengroß.
Mithilfe seines elektronischen Reisepasses, der in seiner Armbanduhr gespeichert war, konnte er innerhalb von wenigen Minuten den Sicherheitsbereich des Flughafens von Aleppo verlassen. Zeitsparend wirkte auch die Tatsache, dass er seinen Koffer schon am Dresdner Bahnhof aufgegeben und den Auftrag erteilt hatte, ihn direkt ins Hotel nach Aleppo zu liefern. Das Hotel lag auf der anderen Seite des Flughafengeländes und war durch einen Tunnel mit dem Flughafengebäude verbunden. Innerhalb von acht Minuten erreichte er das Hotel. Nach dem Einchecken nahm er eine heiße Dusche, zog sich frische Kleidung an und ging hinunter in die Hotellobby. Dort war er mit seinen Arbeitskollegen aus der Vertriebsabteilung, Hannah, Finn und Eric, verabredet.
„Wann seid ihr eingetroffen?“, fragte Andy nach der Begrüßung.
„Hannah und ich erst gestern. Finn ist aber schon seit vorgestern vor Ort“, antwortete Eric.
„Und ist der Stand schon fertig?“
„Ja, alles ist perfekt eingerichtet. Die Messebaufirma hat eine tolle Arbeit geleistet“, sagte Finn zufrieden.
„Du wirst überrascht sein, ja, vielleicht sogar verblüfft“, bemerkte Hannah lächelnd.
Andy ging auf Hannahs Kommentar nicht ein. Bald vertieften sich die Vier in ein langes, geschäftliches Gespräch. Es erstreckte sich noch weit in den Abend hinein und endete mit einem Essen im Hotel und anschließendem Drink an der Bar. Danach ging jeder in sein Zimmer. Andy schlief in dieser Nacht tief und traumlos.
Andys Firma hieß Nanobunt – ein Dresdner Technologieunternehmen, das für seinen patentierten Nano-Putz berühmt war. Bestückt mit dieser Innovation konnte sich eine Gebäudehaut den klimatischen Bedingungen anpassen und seine physikalischen Eigenschaften entsprechend ändern. Auch die Farbe eines Gebäudes war mit diesem Putz variierbar. Bei einer Verbindung mit dem Gebäudemanagementsystem war es zum Beispiel möglich, den Farbenwechsel mit dem Energieverbrauch des Hauses zu verknüpfen: stieg oder sank dieser, veränderte sich entsprechend die Fassadenfarbe.
Am nächsten Morgen trafen sich die vier Kollegen vor dem Stand von Nanobunt. Beim Anblick des Messestands, verstand Andy, was Hannah am Vortag meinte: aus metallisch-lackierten Polystyrol-Hartschaumblöcken war ein Stand von höchster Qualität gebaut worden. Die Fugen waren unsichtbar und die Kanten so perfekt abgerundet, dass der Stand aussah, wie aus einem einzigen Block gefräst. Andy strich kurz mit seiner rechten Hand über die Oberfläche der glatten Seitenwand und ging anschließend langsam zum Zentrum des Standes. Dort blieb er stehen.
„Geil, nicht wahr?“, hörte er Erics Stimme im Hintergrund.
„In der Tat“, antwortete Andy.
Beide richteten ihre Blicke auf den riesigen Bildschirm, der die Rückwand bildete und als Eyecatcher diente. Er zeigte eine Liveaufnahme der Stadt Aleppo aus der Vogelperspektive. Mithilfe einer Spezialsoftware wechselten die Häuser der Stadt in regelmäßigen Abständen ihre Farben, als ob sie alle mit der Gebäudehaut von Nanobunt ausgestattet wären.
„Er ist neun Meter breit und vier Meter hoch“, sagte Eric ungefragt.
„Was für ein schöner Blick. Was ist das für eine schöne Stadt!“, sagte Andy erstaunt. Er wirkte wie hypnotisiert.
„Ja“, fuhr Eric fort, „allerdings weiß ich nicht, ob das an der Stadt liegt oder an der von uns erzeugten Farbinszenierung.“
Erics Äußerung ließ Andy unkommentiert. Vielleicht hatte er sie auch gar nicht bemerkt.
„Das ist eine fabelhafte Sache.“
„Was ist fabelhaft?“, fragte Eric irritiert.
„Einfach alles: Der Bildschirm, der Ausblick, die Stadt und das Farbenspiel. Zusammen wirken diese Elemente wie … wie ein imposantes Kunstobjekt! Ja, wie eine Art Himmelsfenster. Das Himmelsfenster von Aleppo.“
„Verrückter Kerl“, murmelte Eric und ging fort.
Das Himmelsfenster von Aleppo war ein echter Publikumsmagnet. Kein Besucher konnte einfach am Stand vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben und Fragen zu stellen. Teilweise bildeten die Menschen sogar