Der Golan-Marathon. Yassin Nasri. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Yassin Nasri
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737554763
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joggte immer am späten Nachmittag in der Dämmerung und manchmal rannte er sogar im Dunkeln. Aus beruflichen Gründen konnte er nicht früher laufen gehen. Damit verpasste er zwar das imposante Lichtspiel der durch die Baumkronen fallenden Sonnenstrahlen. Dafür aber konnte er jene Unheimlichkeit des Waldes bei Einbruch der Dunkelheit genießen.

      Berauscht von den Eindrücken des Waldes bog Andy in die Jägerstraße ein. Als er seine geräumige Wohnung in der Marinenallee im Preußischen Viertel erreichte, war es bereits spät am Abend.

      Er trat ein. Ohne durch die Küche zu gehen, wo Carla das Abendessen vorbereitete, lief er ins Schlafzimmer, zog seine durchgeschwitzte Sportkleidung aus und sprang nebenan in die Dusche. Unter dem laufenden Wasser ließ er seinen Rausch abklingen. Während das Wasser über seinen Körper floss, dachte er über seine anstehende erstmalige Reise nach Syrien nach.

      Mit halb getrockneten Haaren betrat er die Küche. Carla saß schon am gedeckten Tisch. Außer Brot, Salat und dem Üblichen aus dem Kühlschrank gab es nichts Besonderes. Mehr als ein knappes „Hallo“ sagten sie einander nicht. Schweigend begannen beide, ihre Brote zu schmieren.

      Der Kühlschrank brummte leise vor sich hin und die Wanduhr tickte vorsichtig, als schämte sie sich für den verursachten Lärm. In einer solchen Atmosphäre kamen einem sogar die unterdrückten Kaugeräusche wie eine Ruhestörung vor. Schweigend eine Brotscheibe aufzuessen, schien eine Ewigkeit zu dauern. Andy machte das alles nichts aus – nach einem meditativen Lauf, gefolgt von meditativem Duschen, konnte ein stilles, meditatives Abendbrot nicht schaden. Carla konnte die gefühlte Kälte nicht mehr aushalten und versuchte, mit einem Kommentar das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen zu bringen:

      „Und, sind die Koffer schon gepackt?“, sagte Carla und zweifelte gleich am Sinn ihrer Frage, denn die Antwort darauf war ihr schon bekannt.

      „Eigentlich schon. Es ist ja schließlich nur ein Minikoffer. Ich muss lediglich noch die Kulturtasche reinpacken und fertig, los“, antwortete Andy.

      „Schön“, murmelte Carla in einem theatralischen Ton. Damit wollte sie Andy erneut signalisieren, dass sie über seine Weigerung, sie mit nach Syrien zu nehmen, nicht glücklich war.

      „Hör zu!“, sagte Andy und legte dabei seine Hand auf ihre, „Ich verspreche dir, dass wir Syrien auf unsere Reisewunschliste mit aufnehmen.“

      „Das ist aber toll, dann werden wir in fünf Jahren vielleicht endlich mal dorthin fliegen“, entgegnete Carla in einem ironischen Ton.

      „Das kann stimmen, denn vergiss bitte nicht, dass Vietnam, Argentinien und Kanada schon länger auf der Liste stehen und entsprechend Vorrang haben.“

      Carla antwortete nicht mehr. Sie schaute schweigend, aber mit einem genervten Blick zur Decke hin. Warum sie sich überhaupt noch mal mit Andy anlegte, wusste sie nicht. Immer wieder biss sie bei ihm auf Granit. Sie hatte auch keine Hoffnung, dass er jetzt seine Meinung ändern und sie plötzlich mitnehmen würde. Dafür war es sowieso zu spät: Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr würde Andy zum Bahnhof fahren. Wollte sie damit eine Entschuldigung erzwingen? Carla wusste, wie schwer es war, von Andy eine Entschuldigung für irgendetwas zu bekommen. Und sie legte auch keinen Wert auf leere Worte. Sie war enttäuscht und auch verbittert wegen der verpassten Chance einer gemeinsamen Fahrt nach Syrien, vor allem aber, weil Andy sie so vehement ausschloss. Natürlich sah sie als Studentin der Volkswirtschaft und Internationalen Politik in dieser Reise eine wertvolle Exkursion und eine gute Gelegenheit, das „Musterland“, von dem die ganze Welt sprach, zu entdecken, zumal sie Semesterferien und Andy viele Resturlaubstage hatte.

      Seinerseits verstand Andy ganz genau, was Carla von ihm wollte, aber er fühlte sich nicht in der Lage, ihr entgegenzukommen. Bei seiner geplanten Reise nach Syrien ging es ihm lediglich um die vier Messetage in Aleppo. Er wollte sie durchziehen und anschließend mit der nächsten Maschine nach Deutschland zurückfliegen. Einen Urlaub oder eine Entdeckungstour durch Syrien an die Dienstreise dranzuhängen, wie es sich Carla wünschte, kam für ihn gar nicht in Frage.

      Für einige Minuten herrschte wieder Stille. Dann sagte Carla versöhnlich:

      „Iss noch eine Scheibe mit Brombeermarmelade. Eine solche bekommst du in ganz Syrien nicht.“

      Die Versöhnungsgeste kam bei Andy an. Er lächelte und beugte sich über den Tisch, um Carla einen Kuss zu geben.

      Im Elternhaus

      Carla war am nächsten Tag sehr früh auf den Beinen. Sie radelte schnell zum Wochenmarkt am Alaunpark rüber, wo sie zusätzlich zu den frischen Brötchen auch einige Schinken- und Salamisorten sowie Oliven mit Kräutern und eingelegte Artischocken kaufte. Als Andy an diesem Morgen in der Küche stand, sah er einen perfekt gedeckten Tisch. Carla wirkte wie verwandelt. Sie wollte Andy nicht mit schlechten Erinnerungen an sie und an ihre Beziehung auf die Reise schicken. Er war positiv überrascht, wunderte sich aber zugleich über die Wandlungsfähigkeit seiner Carla – je nach Wunsch zeigte sie ein trauriges, wütendes, nachdenkliches oder - wie heute - ein lebensbejahendes Gesicht.

      Das Frühstück war beendet. Carla bot Andy an, ihn zum Hauptbahnhof zu fahren. Er lehnte das Angebot freundlich ab, denn er konnte Abschiedsszenen an Bahnhöfen und Flughäfen überhaupt nicht leiden, zumal der technische Fortschritt solche überflüssig machte: Andy fuhr mit dem eigenen Elektroauto zum Bahnhof, schaltete vor dem Aussteigen den Autopilot ein und gab dem Auto via Sprachsteuerung den Befehl, selbstständig nach Hause zurückzufahren.

      Die Bahnfahrt nach Frankfurt am Main verlief insgesamt angenehm, auch wenn sich der Zug in Leipzig deutlich füllte. Um Andy herum herrschte geschäftiges Treiben - Reisende stiegen ein und aus, andere unterhielten sich oder telefonieren mit ihrem TelTab (Ein Handy, das beim Ausklappen gleichzeitig als Tablet-Computer funktioniert). Von all dem bekam Andy wenig mit, denn schon kurz nach der Abfahrt in Dresden holte er selbst sein TelTab raus und fing an, sich mit seinen Arbeitskollegen über die letzten Vorbereitungen für die Messe schriftlich und telefonisch auszutauschen. Als er das Gerät zur Seite legte, befand sich der Zug schon hinter Fulda, nur noch eine halbe Stunde vom Frankfurter Hauptbahnhof entfernt.

      Obwohl Andy von der Fahrt und den Mitreisenden wenig Notiz nahm, hatte er das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Dieses Unbehagen verstärkte sich beim Verlassen des Bahnhofs in Frankfurt. Zweimal hielt er an und drehte sich um. Seine Blicke suchten nach Anhaltspunkten, die seinen Verdacht bestätigten - vergeblich.

      Fünfundzwanzig Minuten nach seiner Ankunft erreichte Andy Kronberg im Taunus. Oberhalb dieses verträumten Ortes wohnten seine Eltern. Die Nähe des Elternhauses zum Frankfurter Flughafen passte Andy ganz gut. So konnte er seine Reisen immer mit einem Besuch bei seiner Familie verbinden. Diesmal blieb er über Nacht. Am nächsten Tag musste er gegen acht Uhr morgens am Flughafen sein.

      Nachdem Andy seine Eltern begrüßt hatte, setzte er sich auf die Terrasse. Es war ein herrlicher, sonniger Herbsttag, wahrscheinlich einer der letzten des Jahres, an denen man draußen sitzen konnte. Er genoss den Ausblick, denn von der Terrasse aus konnte man sogar die Skyline der Stadt Frankfurt sehen.

      „Kaffee ist fertig!“, rief Muna aus dem Wohnzimmer.

      Andy rührte sich kaum. Als er sich gerade aufraffte, um aufzustehen und sich in Richtung Wohnzimmertür zu bewegen, legte seine Mutter nach: „Komm endlich rein! Du wirst in Aleppo genug Sonne abbekommen.“

      Andy konnte mit seiner Antwort nicht warten, bis er im Haus war. Er stand noch im Türrahmen zum Wohnzimmer und rief hinein: „Schön wär‘s! Leider werde ich die syrische Sonne kaum auf meinem Gesicht spüren, nicht mal auf dem Weg zur Messe, denn das Hotel und die Hallen liegen alle auf dem Flughafenareal.“

      „Du Armer, das tut mir aber leid für dich“, sagte seine Mutter sarkastisch. Osama, der schon auf dem Sofa saß, mischte sich in das Gespräch ein: „Hättest du nicht Lust, einige Tage dranzuhängen, um Land und Leute kennenzulernen?“

      „Das hört sich aber sehr nach einem Vorschlag an“, spottete Andy. Man sah ihm die Verwunderung über die Frage seines Vaters an.

      „Ich meine, wenn du schon