Sie setzt sich gekämmt an den Frühstückstisch, verlangt aber nicht, dass ich mich auch kämmen soll. Sie stellt den Wecker eine halbe Stunde früher als unbedingt nötig. Sie sagt: „Ich komme nicht pünktlich, aber ich komme.“ Sie hat Eier im Kühlschrank, wie ich mit einem unabsichtlichen Blick im Vorübergehen sehe. Sie hat ein Küchenbuffet mit geputzten Scheiben, und die linke obere Tür quietscht leise, wenn man sie öffnet. Sie sagt, bevor sie die Sterne aufhängt, will sie noch die Fenster putzen. Weder das eine, noch das andere wird geschehen, fürchte ich. Als ich am Abend wiederkomme, ist beides vollbracht.
Sie schaut in mein staunendes Gesicht und freut sich leise. Ich rechne nach, dass sie heute in Spandau, Bernau und Wilhelmsruh war, und kann nicht begreifen. Sie schimpft mit sich, als wäre sie faul und kriegte nichts auf die Reihe. Ich brauche ein paar Tage, um zu kapieren: Hier ist die Selbstwahrnehmung offenbar verschoben. Sie ruft mich an wie versprochen, aber nicht mehr nach zehn. Ich rufe sie an, sie ist da und geht ran. Ja, ich idealisiere. Dafür kann ich nichts, denn ich kam völlig derangiert und demoralisiert aus einer Beziehungswüste. Aus mehr oder weniger gut verdeckten Mängeln. Deine fußkalte Küche, deine Katzen, dein Rauchen, deine Vergesslichkeit – das ist vorbei.
Sie tut ihre vermeintliche Unperfektheit kund, und ich war allzu schnell bereit, ihren Bekundungen zu glauben, wofür kein Grund bestand. Jetzt, da ich sehe, es geht anders, weiß ich erst, wie unrecht ich mir getan habe, als ich glaubte, dich lieben zu müssen. Ja, ich vergleiche. Dich mit ihr. Wer nicht gut dabei abschneidet, ist klar. Ich frage sie, ob sie das Buch „Der Fänger im Roggen“ gelesen hat. Sie hat. Holden Caulfield hegt den Berufswunsch „Fänger im Roggen“, weil er Kinder vor einem Abgrund retten will. Wenn in einem ihrer Musikkurse einem Kind schlecht wird, sieht sie es schon am Beginn der Stunde. Und als Anna blass und blässer wird, führt sie sie an der Hand hinter sich her, geht mit ihr ins Bad und spricht dem Mädchen beruhigend zu, als es weint und schließlich sein Frühstück verabschiedet. Allein die Information, sie sei Kinderdiakonin, lässt mein inneres Kind das Beste hoffen. Für mich.
Die Ängste, die du in mir reaktiviert hast, all diese Ängste kann ich bei ihr getrost sein lassen. Wo du mir das Familienrezept für Vanillekipferl abpresstest (wie ich´s nicht hergeben wollte, sagtest, so eine Beziehung wollest du nicht führen), steckt sie mir Selbstgebackenes in den Mund. Das ist der Unterschied. Ich sag es nur, weil du gefragt hast. Aber nein, nicht mal gefragt hast du nach ihr. Mich nach dir zu fragen, das hat sie getan. Ohne dass ich es wusste, gehört auch das dazu: zu den Dingen, die ich als beruhigend empfinde.
Perücken
Weißt du, sie waren klüger als wir. Mich schockiert so etwas: vor 200 Jahren. Wir haben alles vergessen – Überheblichkeit, die nie angebracht ist. Wir meinen, weil damals die Psychologie noch gar nicht geboren war, sondern das Wunschkind noch „Erfahrungs-Seelenkunde“ hieß, könnten wir auf sie herabschauen, mit ihren Perücken und Tintenfässern und Federkielen.
Ja, ich geb´ es zu: Wer einmal eine Radierung von Lessing gesehen hat, möchte ihn sich nicht als Seelenkenner vorstellen und auch nicht als Dramaturgen. Aber wenn ein Kind starb, knickten gramgebeugt die stärksten Männer ein, damals, und so etwas konnte dann Anlass geben, darüber zu philosophieren, wann ein Schmerz so sehr herabgemildert ist, dass er zum Gegenstand der Elegie werden kann. Sie sagen, die schwarzen Bilder müssen sich schon so weit entfernt haben in der Zeit und so weit auseinander getreten sein, dass sich frohe Erinnerungen darunter mischen können. Dann fließt die Träne, und die Zunge löst sich. Ist der Schmerz noch zu nah und zu stark, ist alles starr und stumm und Stein. Wieso muss ich das bei Thomas Abbt lesen, und es sagt mir etwas, über alle Trennungen, die sich mit der Zeit erst erweichen und verflüssigen ließen durch Erinnerung an das, was gut war? Wieso sagt mir das „Psychologie heute“ nicht? Abbt und Lessing also.
Dann kommt der junge Herder um die Ecke, eine Straßenecke in Bückeburg, wo er Konsistorialpräsident ist, Nachfolger von Abbt, auch er mit einer echt gewagten Perücke auf dem Kopf, und sagt: Ja, ja, aber doch falsch, anzunehmen, die natürliche Empfindung, Schmerz, Trauer, Wehmut, Melancholie, ließe sich in Sprache umformen. Er sagt: Sprache sind Zeichen, und die sind künstlich. Es wird also nicht ein Gefühl ausgedrückt, sondern die sprachliche Version eines Gefühls, die der Künstler gemacht hat. So waren die drauf, damals.
Ich muss ihnen Recht geben, wenn sie, durch bloßes Nachdenken, auf die Behauptung verfallen, Einbildungskraft und Verstand seien dabei, wenn der Dichter aus seinem Schmerz eine Elegie dichtet. Wie ein Kind mit seinen Sandformen baut: Phantasie ist dabei und ein ordnender Geist, der sagt: Das gehört hierhin, das dahin, dieses muss so, jenes anders sein.
Dann kommt Schiller. Bei ihm weiß ich nicht: Ist das Naturhaar, das da lässig im Nacken zusammengehalten wird von einem dunkelblauen Samtband? Ich bin sicher, es war nachtblau – seltsam, sah ich doch nur eine Lithographie! Ich stelle mir vor, Schiller gibt der Herder´schen Version eine hintersinnige Umdrehung mit, genau diese Umdrehung wird eine zuviel sein, und das Herder-Spielzeug zerbricht. Wo Schiller dran gedreht hat, da hilft kein Kleben mehr. Der war so ein Großer, Blasser, die machen manchmal Sachen, wo sie selbst nicht ahnen, dass damit alles in die Brüche geht.
Und dann kommt Hölderlin. Mit schwarzen Augen steht er da, schon eine ganze Weile, sie haben ihn nur noch nicht bemerkt. Er hat alles gehört und lässt die Dinge, die zerbrochenen, auf den Grund sinken, in ein vierjähriges Schweigen. Danach geht nichts mehr. Was er in hastigen Buchstabenschnörkeln aufs Papier kritzelt, ist unverständlich: seinen Zeitgenossen, seiner Familie – uns. Ich hoffe, er hat sich an Schiller gehalten. Dann besteht noch die Chance, ihn zu verstehen. Der ältere Landsmann, der sein Mentor sein sollte und es nicht vermochte. Ich hoffe, der Lehrer, der ihn fallen ließ, möge der Schlüssel zum Schüler sein. Denn dass Hölderlin überhaupt jemandes Schüler sein wollte, macht es nicht hoffnungslos. Ich hoffe, dass Hölderlin Schiller noch irgendwo am Rockzipfel hängt. Ansonsten wird´s schwierig.
Emotionale Verwerfungen
Du bist ja so verständnisvoll. Nichts, was passiert, wirft dich aus der Bahn. Entweder sind die Probleme geschrumpft, oder du hast gerade eine Glückssträhne. Du weißt es nicht, sagst dir aber, dass du nicht alles wissen musst. Du hast gelernt, dass nicht weiterzuwissen, auch nicht so dramatisch ist. Du machst dann erst mal gar nichts und siehst später weiter. Irgendwie findet sich immer ein Weg. Sich dem stellen, was gerade dran ist. Die großen Verzweiflungen und emotionalen Verwerfungen sind nicht mehr da.
Aber wenn du träumst, sind es Wiedersehensträume kitschigster unwahrscheinlichster Art. Du nimmst es hin, lässt dein Seelenleben gewähren, wann, wenn nicht im Schlaf. Wieder erwacht, wirst du es gewahr mit seltsamem Abstand, so als ginge es dich nichts an. Eine bleierne Traurigkeit liegt über allem. Der Lack ist ab. Die Jugendträume haben sich zerschlagen, was bleibt, ist die Wahl des richtigen Altersvorsorge-Modells.
Du kennst auch diese Einseitigkeit schon an dir, diese einseitige Beanspruchung, emotionale Vernachlässigung und Verwahrlosung. Du bist gewarnt vor jungen Hüpfern, verantwortungslosen Dingern, die leichtes Spiel haben, dein Alltagsgrau zu vertreiben. Spontaneität kommt dir vor wie eine schwere Arbeit. Zum Wünschen fehlt dir die Kraft. Du fährst nicht ans Meer, denn du weißt nicht, mit wem. Das Meer ist dir verleidet, denn es gehört ihr.
Leben auf Sparflamme, niemand zwingt dich dazu. Eine Fahrt ins Grüne, nach Thüringen im Mai. Es kann so schwer nicht sein, einen Grund zum Freuen zu finden. Müde bist du, das ist klar. Du triffst sie wieder oder nicht. Manche sagen, wir müssten uns ein Leben lang an der Welt abarbeiten. Kann ich das auch anders sehen? Für heute reicht mir das. Ich geh heim. Ich will Blumen geschenkt und eine Überraschung. Ich darf gespannt sein. Ich habe ja keine Ahnung. Nicht die geringste.
Der Sommer kommt. So oder so. Sonnencreme wird wichtig werden und Sand aus den Hosentaschen rieseln. In einem Fort lächelnd werdet ihr ein Auto vollladen mit den irre vielen Sachen, die man für ein Wochenende braucht. Bei Anklam gibt´s Stau, da fahren wir